Ravensburg – 14 zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen versuchen mit Videos, mit Fotografie, Cartoons und Malerei, sich emotionalen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekten von „Familie“ zu nähern. Der Titel der Ausstellung spielt mit einem Wort – „Wahl.“ Selten reduziert sich die Gründung einer Familie nur auf zwei Menschen, die sich lieben, die Werte miteinander verbinden und Lebensentwürfe für die nächsten Jahrzehnte, idealerweise bis ins Alter. Der Titel der Ausstellung „(Wahl-)Familie. Die, die wir sind“. Zu sehen ist sie im Kunstmuseum Ravensburg.
Den Partner, die Partnerin für eine künftige Familie, meist in naher Zukunft mit gemeinsamen Kindern, wählt man, in einem demokratischen, modernen Gesellschaftssystem, frei. Vorgeblich zumindest. Familien mit arrangierten Ehen, mit Zwangsheirat, in der rigiden Enge von Kasten oder Ethnien, sind in dieser Ausstellung ausgeschlossen. Sie würden den Rahmen sprengen. Dennoch bieten die sehr unterschiedlichen Familienmodelle, die die 14 KünstlerInnen abbilden, denen sie sich angenähert haben, ausreichend Grundlagen die eigenen Erfahrungen zu reflektieren.
Das Wort “Wahl“ wird zum Leitmotiv: Hat man bei einer Familiengründung die Verwandtschaft quasi als „Beipack“ dabei, ob man sich mit ihr versteht oder nicht? Hat man die Wahl der Distanz, der Abgrenzung? Wie weit geht Toleranz unter dem Schirm der Familie? Ist Familie, im weiteren Verständnis, für den Neuen, für den Eindringling in über Generationen unangetastete Konventionen ein übles Rollenspiel?
Corinna Schnitt, *1964, drehte ein Video in einem jener kleinbürgerlichen Eigenheim-Ghettos, in dem Hecken und Sträucher vermutlich mit der Nagelschere geschnitten werden. Da trifft die erwachsene Tochter sonntags zwischen vier und sechs ihre Eltern, dann werden die Verkehrsschilder vor dem Haus mit einem Eimer voll Pril-Wasser gereinigt.
Was Thomas Struth,* 1954, mit einer Plattenkamera abbildet, lässt einen nicht weniger frösteln: die tadellose Ordnung und Hierarchie jener großbürgerlichen Familien, die sich um den Patriarchen herum vor der Sofagarnitur inszeniert. Das Bindeglied dürfte der Besitz sein, das Erbe.
Mit der kleinsten Familieneinheit, Mann & Frau, experimentiert in einer Fotoserie die 1979 in Shanghai geborene, in New York arbeitende Pixy Liao. Sie zerlegt zärtlich, sensibel Vorurteile und Geschlechterrollen – als Chinesin einen japanischen Partner, fünf Jahre jünger als sie. Unmöglich! Sie, die Dominante, hält ihn, den Schutzbedürftigen, nackt in den Armen.
Für viele ein noch immer, vielleicht nicht immer ausgesprochener Affront gegen die “anständige“, sexuell „dem Wesen der Natur entsprechend“ geregelte“ Institution Familie, dokumentierte Verena Jaekel 2005/06. Neue Familienportraits, von homosexuellen oder queeren Paaren aus ganz unterschiedlichen ethnischen und sozialen Herkünften. Berührend schöne, hoffnungsvolle Fotografien.
Thematisch verwandt die schwarz-weiß Aufnahmen der französisch-haitianischen Fotografin Chantal Regnault aus dem Harlem der 80er, der frühen 90er Jahre, die eine Nähe, eine Vertrautheit, eine körperliche Sinnlichkeit ausstrahlen, an denen man sich nicht satt sehen mag. Rassistisch diskriminierte, teils auch von ihren Familien ausgestoßene Afro-Amerikaner schlossen sich in “Houses“ unter einer „Mother“ als Oberhaupt, in Wahlfamilien zu neuen Gemeinschaften zusammen.
Die 1985 in Warschau geborene Joanna Piotrowska fotografiert analog und ausschließlich schwarz-weiß, was nicht ablenkt von den minima- listischen Dokumenten dessen, was Familie auch ausmacht: Gesten, Berührungen, intime Berührungen zweier Menschen, die etwas verbindet, das wir nicht erfahren,aber sehen: da hält ein älterer Mann einen jüngeren in seinen Händen. Ein Vater seinen Sohn? Zwei Menschen hatten ganz offensichtlich sich gewählt – der eine, schwach zu sein, hilfsbedürftig, und darin einem anderen voll zu vertrauen, sich hinzugeben; der andere Schutz zu bieten, Fürsorge, positive Emotionalität.Ob man dies Familie nennen muss, ist völlig irrelevant. Eines der bewegendsten Fotos der Ausstellung.
Und den mit Abstand witzigsten Beitrag, geradezu irrsinnig komisch, ist das Video, das der israelische Videokünstler Guy Ben-Ner mit seiner Frau Nawa und den beiden Kindern Elia und Amir in 15 Ikea-Filialen in New York, Berlin und Tel Aviv – ohne Drehgenehmigungen! – zu den Fragen seiner Kinder zu „Geld, Besitz und Familie“ gedreht hat.
Die Ausstellung läuft bis 5. November, Di. – So.
Autor: Wolfram Frommlet
Fotos: Kunstmuseum Ravensburg