Skip to main content
Wer klettern kann, ist im Vorteil: Prof. Ertel (rechts) protestierte im Mai 2021 gemeinsam mit Samuel Bosch, Klimaschützer im Altdorfer Wald, gegen die andauernde Energieverschwenung an der Hochschule in Weingarten. Foto: Igor Chernov

Ravensburg/Weingarten – Er ist nicht als Rebell geboren, wenngleich sein Vorname eine germanische Kampfansage ist. Einerseits. Andererseits ist 1960 Wolfgang der beliebteste Jungenname und damit ein Synonym für ein Nachkriegskind, das im Wachstums-wunderland auf die Welt gekommen ist. Das gilt auch für Wolfgang Ertel, der 1959 in der Schweiz geboren und in Leutkirch aufgewachsen ist, wo sein Vater als Lkw-Fahrer am Wohlstand mitbaute. Erfolgreich, denn als Professor ist sein Sohn ein typisches Beispiel für ein Aufsteigerkind, das sich mit 65 Jahren im neuen Jahr in den Ruhestand verabschiedet. Der keiner sein wird, denn der Professor hat sich zum Revoluzzer fortgebildet. Von einem, der auf Bäume steigt.

Es ist nicht so, dass der studierte Physiker und promovierte Informatiker nicht auch akademische Meriten verdient hätte, schließlich gründete er 2008 an der Hochschule Ravensburg-Weingarten das Institut für Künstliche Intelligenz und war somit Wegbereiter einer Technologie, die er heute für gefährlicher hält als die Atombombe. Dazu mehr im Interview. Es kann festgestellt werden: Ertels akademische Karriere ist tadellos. Seinen persönlichsten Erfolg sieht er aber darin, dass er gemeinsam mit Samuel Bosch, einem damals 18-jährigen Aktivisten aus dem Altdorfer Wald, im Mai 2021 im Hochschulcampus in Weingarten auf einen Baum geklettert ist, von dort zum Institutsgebäude ein Seil gespannt hat, an dem zwei Transparente und schließlich Bosch und Ertel kopfüber hingen und protestierten. Wogegen? Gegen einen betriebswirtschaftlichen und klimaschädlichen Irrsinn. Nämlich gegen die permanente Beheizung – das heißt auch in den Semesterferien, die ja bekanntlich dauern – von Hörsälen und Seminarräumen und für eine intelligente Heizungssteuerung. Weil er den Protest nicht angemeldet hatte, wurde Ertel im April 2022 vom Amtsgericht Ravensburg zu einer Geldstrafe von 4000 Euro verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sowohl Ertel als auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt, und das Gericht lässt sich Zeit. Ertels „Straftat“ spart indes dem Land viel Geld und der Atmosphäre einiges an CO2, denn was ihm all die Jahre selbst als Nachhaltigkeitsbeauftragter an der Hochschule nicht gelang, und er am bürokratischen Filz scheiterte, erledigte sich mit einem Anruf der Ministerin Theresia Bauer, die auf die bundesweiten Schlagzeilen reagierte (BILD berichtete) und sich persönlich beim „Professor im Baum“ über sein Wehklagen erkundigte und prompt Abhilfe verschaffte. Seitdem wird die Heizung nach Bedarf geregelt. Für Wolfgang Ertel, den passionierten Kletterer, war die ministerielle Intervention sowohl Genuss als auch Offenbarung, dass trotz vieler Widerstände etwas geht beim Klimaschutz – wenn man sich traut.

ANZEIGE
Prof. Wolfgang Ertel vor Ort im Altdorfer Wald, wo er die „Aktivisti“ im Baumcamp unterstützt und bei kühlen Temperaturen online eine Vorlesung zur Nachhaltigkeit hält.

Und daran soll’s nicht mangeln, das hat er sich für seinen Ruhestand vorgenommen. Dass er seit einigen Jahren auffällig geworden ist, weil er als arrivierter Beamter und Wissenschaftler mit den Schülerinnen und Schülern von Fridays for Future in Ravensburg auf dem Marienplatz demonstrierte und wiederholt aus Protest auf Bäume kletterte und damit den Verkehr behinderte, sieht er als Reifungsprozess zu einem Thema, das ihn berührt: die Klimakrise. Ihre Existenz ist in der Wissenschaft schon lange unbestritten, aber was tun als Wissenschaftler, wenn man weiß, dass die Zeit zum Handeln unwiederbringlich läuft und die Gesellschaft darüber debattiert, ob es statthaft ist, dass SchülerInnen aus Protest gegen das politische Nichtstun und für ihre Zukunft hin und wieder die Schule schwänzen? Das treibt dem sportlichen Opa schon mal die Tränen in die Augen, wenn er mit seinem Enkel auf dem Arm bei einer Demo dem bunten SchülerInnenhaufen Mut macht und die Stadtoberen auffordert, endlich mehr und Konkreteres zu tun, um ihren Kindern eine Chance auf ein Leben zu lassen, das nicht von Angst und Schrecken bestimmt wird.

Auch wenn er weiß, dass er in Ravensburg vielen auf die Nerven geht und manch einer ihn „für einen kriminellen Spinner“ hält, an der Hochschule fühlte er sich gut aufgehoben: sein Fach war spannend, er war anerkannter KI-Experte, die Studierenden waren interessiert und erfolgreich, und am Institut war er bis vor zwei Jahren noch Chef. Es geht dort nicht um Sprach-KI wie Chat GPT, sondern um Servicerobotik, also technische Dienstleistung beispielsweise in der Pflege. Zu 80 Prozent habe ihm sein Beruf Freude gemacht, 20 Prozent musste er als Bürokratie ertragen, resümiert der Professor zum Berufsende. Und wendet sich davon ab.

ANZEIGE

Auch das ist ein Reifungsprozess, weil Ertel es nicht beim Verstehen der Symptome des Klimawandels und dessen Entstehung belassen hat, sondern als Physiker wissen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und dabei feststellt,  dass unser Wirtschaftssystem mit seinem zwanghaften Wachstum dabei ist, diese Welt im Innersten zu zerstören. „Der Kapitalismus muss weg“, damit erschreckt Ertel als Referent und Diskutant schon mal seine ZuhörerInnen. Denn da hört der Spaß auf: es geht schließlich um Wohlstand und Komfort -, den auch Wolfgang Ertel genießt, aber wohl dosiert und bewusst. Er fliegt nicht mehr, fährt Fahrrad oder E-Auto und ernährt sich vegan. Ab 1998 wohnte die Familie mit drei Kindern im eigenen überschaubaren Passiv-Haus mit kleinem Garten. Über seinen Tesla, nicht teurer als ein Mittelklassewagen, kommt er ins Schwärmen, die einfache Ausführung reiche ihm völlig. Er sei „begeisterter Techniker“, aber: „Die Technik alleine löst die Probleme nicht.“ Weil die Technik die Probleme auch verursache. Der technische Fortschritt, so auch die KI, sei Treiber des Wachstums und jede Effizienzsteigerung führe zu mehr Wachstum, das permanent Grenzen überschreite. „Ohne Schrumpfen geht gar nichts“, ist sich der Wissenschaftler sicher und empört sich über die Grünen. „Grünes Wachstum ist eine Lüge!“

Prof. Markus Schneider (links) ist Nachfolger von Wolfgang Ertel in der Leitung des Instituts für Künstliche Intelligenz. Foto: Alexander Koschny

Wolfgang Ertel ist nicht als Revoluzzer geboren, dazu fehlte ihm auch das politische Interesse. Statt auf Anti-Atomkraft-Demos ging er zur Bundeswehr, zwei Jahre zu den Gebirgsjägern nach Berchtesgaden, weil er gerne kletterte. Im Anschluss forderte ihn sein Studium der Mathematik und Physik in Konstanz. „Ich war gezwungen, hart zu arbeiten.“ Daran änderte auch die Promotion nichts. Dann galt es, in der Industrie sich zu bewähren und sich mit einem Studienaufenthalt in den USA zu profilieren, bevor er als Professor nach Weingarten berufen wurde. Sein Ehrgeiz war groß und von Erfolg gekrönt, denn mit dem Institut für Künstliche Intelligenz beschritt er Neuland. Institute sind Forschungseinrichtungen, die es bis dahin an Fachhochschulen, später Hochschulen nicht gab. „Ich hab’ g’schafft wie ein Wilder“, erinnert sich Ertel und weiß, dass es gerade im Mittelalter schwierig ist, sich um mehr zu kümmern als um Beruf, Familie und Nestbau. Das Klima soll warten. So ging es auch ihm. Aber Wissenschaft basiert auf Fragen – Goethes Faust will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält? – und der Naturwissenschaftler, Techniker, Scientist for Future und Naturliebhaber Ertel will wissen, warum diese Welt so sehr bedroht ist, und was man dagegen tun kann. Nachhaltigkeit ist schon seit 20 Jahren sein Thema, dazu hält er auch öffentliche Vorlesungen und seine Studis müssen sich auch mit praktischen Schritten in Nachhaltigkeit üben, Fahrgemeinschaften bilden zum Beispiel. Machen und nicht nur schwätzen ist sein Credo, das ihn bei allem Wissen um die Bedrohung dieses wunderbaren blauen Planeten in der Balance hält. Und ihn gelegentlich auf Bäume treibt. Auch das hilft!

ANZEIGE

Lesen Sie das Interview mit Prof. Wolfgang Ertel hier.

Autor: Roland Reck



NEUESTE BLIX-BEITRÄGE

Editorial BLIX August/September 2024

Liebe Leserinnen, liebe Leser,  der Urlaub ist da! Sie halten die Sommerdoppelausgabe für August und September in Händen, und wir sind derweil auf Erholung im „Urlaub dahoim“. Schön! Aber bis dahin gab es viel zu tun. Denn wenn man sich „dahoim“ umschaut, dann entdeckt man unglaublich Vieles, was einen Besuch und unser Interesse wert ist. Und was sich davon in BLIX findet, ist nur eine kleine Auswahl – aber die machte viel Arbeit. Ich hoffe, sie trägt zu Ihrer Freude bei.
erschienen in: BLIX August/September 2024

Leserbriefe

Auch für die Monate August/September erreichten uns wieder zahlreiche Zuschriften.
erschienen in: BLIX August/September 2024

Ein Nachruf und Abgesang

Oberschwaben – Jetzt ist es so weit: Ich werde von meiner Tageszeitung geduzt und aufgefordert, in den Garten zu pinkeln! Geschehen an einem regnerischen Sommertag, früh morgens beim Frühstücken, nicht etwa unter der Rubrik Glosse/Unterm Strich/Humor oder völliger Nonsens. Nein, im Lokalen, dort, wo ich Relevantes aus meinem kommunalen Umfeld erfahren möchte. Oder hat die Zeitung recht und es gibt nichts Wichtiges aus unserer Heimat zu berichten, also fordert sie mich (Du) zu meinem Zeitvertr…
erschienen in: BLIX August/September 2024

„Logo, wer, wenn nicht er!“

Bad Schussenried – Auch Wetterfrösche werden älter, und Roland Roth wurde im Juli 70 Jahre alt. Ein Grund mehr, mit dem Wetterexperten von der Wetterwarte Süd ein ausführliches Gespräch über Wetter, Klima und selbstverständlich auch über Fußball zu führen. Hinzu kommt, dass „Role“ auch das Theater für sich entdeckt hat, besser: dafür entdeckt wurde. Das Thema passt, und so brilliert der Wettermann als „Klimamahner“ in dem Theaterstück „Kiesgold“ als Teil des Widerstandes gegen die Waldrodung …
erschienen in: BLIX August/September 2024

Spur der Steine

Oggelshausen – Seit über 50 Jahren stehen in der Federseelandschaft bei Oggelshausen eigenwillige Steinmale, die von bedeutenden Bildhauern aus fünf Ländern und drei Kontinenten geschaffen wurden. 2000 kamen weitere zehn Werke hinzu. Die Skulpturen haben nichts an Faszination eingebüßt.
erschienen in: BLIX August/September 2024

Grenzland

Die Adelegg – Es könnte ein Frauenname sein: Adelegg wie Adelheid. Ist es aber nicht. Aber was dann? Das Allgäu kennt jeder, Oberschwaben auch. Und „die Adelegg“ ist wie ein klobiger Türriegel, der beide Teile verbindet. Es ist Berg- und Grenzland, das ehedem monarchisch das Königreich Württemberg und das Königreich Bayern verband und heute – ziviler – das Allgäu mit Oberschwaben verbindet. Man fährt eher daran vorbei auf dem Weg nach Süden oder Norden, als dass man diese kleine, den Allgäuer…
erschienen in: BLIX August/September 2024

Kein bierernster Besuch

Bad Buchau – „Urlaub dahoim“ kann ungeahnt an weit entfernte Orte entführen. Dazu genügt bereits der Genuss eines kühlen schwäbischen Bieres. Denn wer hätte gedacht, dass dieses Kultgetränk Oberschwaben mit Ägypten und dem Vorderen Orient verbindet? Die Sonderausstellung „Bier – ein Jahrtausende altes Kultgetränk“ im Federseemuseum Bad Buchau lädt ein, sich mit der Geschichte und Kultur des Gerstensafts zu befassen. Ein maßgeblicher Grund für die Ausstellung seien jüngste Forschungen über die…
erschienen in: BLIX August/September 2024

Basilika feiert Jubiläum

Weingarten/Region – Die Basilika in Weingarten wurde am 10. September 1724 geweiht – nach nur siebenjähriger Bauzeit. Zum 300-jährigen Bestehen gibt es vom 10. bis 15. September 2024 eine Festwoche sowie verschiedene Aktionen und Veranstaltungen. Zudem findet vom 10. bis zum 18. August wieder die Barockwoche auf der oberschwäbischen Barockstraße mit Führungen und musikalischen Highlights statt. 
erschienen in: BLIX August/September 2024

„Jesus war kein Stadtmensch“

Weingarten – Ekkehard Schmid (59) ist nicht nur verantwortlicher Pfarrer für die Basilika, sondern auch Dekan des Dekanats Allgäu-Oberschwaben. BLIX stellte dem katholischen Priester zum Jubiläum der Basilika, die in nur sieben Jahren erbaut wurde und aktuell umfassend restauriert wird, sieben Fragen zur Bedeutung von „Baustellen“. Herr Schmid, 300 Jahre Basilika, wie fühlen Sie sich dabei? Ich bin dankbar, dass die Kirche keine Eintagsfliege ist, sondern eine lange Geschichte hat, in d…
erschienen in: BLIX August/September 2024

Da blüht Ihnen was!

Ochsenhausen – Andy Warhols Serigrafie „Flowers“ ist eines der bekanntesten Werke der diesjährigen Sommerausstellung, es gedeihen jedoch auch unbekanntere Blüten. Überraschend sind die Exponate digitaler und analoger Fotografie. 
erschienen in: BLIX August/September 2024

Auf Spurensuche

Ravensburg – Der Werbeunternehmer und Kunstsammler Peter Selinka (1924 – 2006) hätte in diesem Jahr am 29. August seinen 100. Geburtstag gefeiert. Was weckte seine Leidenschaft für Kunst? Was hat ihn inspiriert? Welche Spuren hinterließ er? Diesen Fragen geht eine Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg nach und begibt sich auf Spurensuche, denn die Überlassung der „Sammlung Selinka“ an die Stadt Ravensburg war der Anstoß für den Bau des Kunstmuseums, das am 8. März 2013 eröffnet wurde. „Das Mu…
erschienen in: BLIX August/September 2024

Wunderwelten

Ochsenhausen – Wer auf ebenso lehrreiche wir unterhaltsame Weise erfahren möchte, was es mit dem Goldenen Schnitt in der Natur auf sich hat, was Ingenieure und Architekten von  Schnecken und Muscheln abgeschaut haben und wie der Klimawandel sich auf die Bewohner des Meeres auswirkt, der sollte sich durchs Muschelmuseum in Ochsenhausen führen lassen und sich überwältigen lassen von der unglaublichen Schönheit der Farben und Formen dieser uralten Lebewesen. 
erschienen in: BLIX August/September 2024

Mutige Gründung vor 100 Jahren

Weingarten – Das Fotoforum Weingarten e.V. wurde am 10. Juni 1924 als „Amateur Photozirkel Weingarten“ gegründet. Ein mutiges Vorhaben, denn die Technik war damals noch relativ neu und teuer. Heute, mehr als 100 Jahre später, gibt es den Verein immer noch, zwischen Dezember 1924 und 1999 als „Fotofreunde Weingarten e.V.“ und seither als „Fotoforum Weingarten e.V.“.
erschienen in: BLIX August/September 2024

Erinnerung an jüdische Familie

Ochsenhausen – Vor dem Rathaus in Ochsenhausen erinnert seit dem 7. Juli eine Infotafel an die Vertreibung einer jüdischen Familie aus der ehemaligen Nazi-Hochburg. Zu verdanken ist sie zwei bemerkenswerten Siebzehnjährigen vom Ochsenhauser Gymnasium.
erschienen in: BLIX August/September 2024

Schlechte Noten

Stuttgart – Kritik an Weiterbildungsmaßnahmen übt eine Studie der AgenturQ und dem Institut der Deutschen Wirtschaft. Demnach berücksichtigen die Weiterbildungsmaßnahmen nicht in ausreichendem Maß die Kompetenzen, die in der Auto- und Zulieferindustrie, im Maschinenbau sowie in der Metall- und Elektro-Branche benötigt werden. 
erschienen in: BLIX August/September 2024

ANZEIGEN

BLIX-NEWSLETTER

VERANSTALTUNGEN

ALLGÄU-OBERSCHWABEN

Meckenbeuren – Volltrunken mit mutmaßlich nahezu 4 Promille verursachte am Freitag gegen 16.50 Uhr eine Pkw-Lenkerin …
Bad Waldsee – Am heutigen Sanstag, 7. Setember, um 14.00 Uhr startet das einzigartige Fahrrad-Aktionskunst-Event für …
Ravensburg / Durlesbach / Kluftern – Stefan Weinert ist Bahnfahrer. Ein passionierter. Passion meint oft Leidenschaft…
Maria Steinbach – Der Pfingstmontag ist das Hauptwallfahrtsfest an der Wallfahrtskirche in Maria Steinbach.  Ab …
Laupheim- In der Sammelzentrale Aktion Hoffnung, Fockestr. 23/1, 88471 Laupheim, Gewerbegebiet Süd findet am Donnerst…