Biberach – Kunst der 1970er Jahre in Oberschwaben präsentiert das Museum Biberach seit dem 21. November in der Ausstellung „Time is on my side“. Höchst überraschend und sehr sehenswert.
Nach fünf Jahren beendete die stellvertretende Leiterin des Museum Dr. Judith Birr ihre Arbeit in Biberach und übernahm zum 1. Oktober eine Professur an der Hochschule Darmstadt. Ihre Ausstellung „Konsum in der Kunst“ 2022/23 und die beiden Ausstellungen im Bräckle-Atelierhaus in Winterreute bleiben in bester Erinnerung. Die Stelle wurde zur Nachbesetzung ausgeschrieben. Ein Glücksfall, dass Museumschef Frank Brunecker Dr. Uwe Degreif für das neueste Projekt gewinnen konnte. Der erfahrene Ausstellungsmacher kuratierte die Ausstellung „Time is on my side – Kunst der 1970er Jahre in Oberschwaben“, die am 21. November eröffnet wurde. Der Kunsthistoriker, von 1997 bis zu seiner Pensionierung 2020 stellvertretender Museumsleiter, ist ausgewiesener Experte zu diesem Thema. Auf die Frage bei einem Vorabrundgang, was er an der Kunst der Siebziger so spannend findet, meint er: „Spannend ist immer alles, womit man sich wirklich beschäftigt. Die Siebziger waren bisher eine Leerstelle im Museum.“
Zwar sei etwa der Kritische Realismus an den Akademien in Frankfurt oder Berlin bereits 1968 entstanden, thematisiert wurde insbesondere der Vietnamkrieg oder Rassendiskriminierung, in Oberschwaben kam er aber etwas später an. Viele in der Region haben sich durch ihr ästhetisches Dagegensein ausgezeichnet, übten Kritik an ästhetischen Erwartungen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Dies, typisch für die Arte Povera, teilweise mit „ärmlichen“ Materialien wie Knochen, Stoffresten oder Schwemmholz statt „ewigen“ Materialien wie Marmor oder Bronze.
Uwe Degreif präsentiert nicht nur bekannte Künstler, sondern auch ungewöhnliche Positionen. „Ich wollte unbedingt auch diese schrägen Vögel“, lacht er. Was macht eine Person aus? Welche Aspekte sind wichtig, welche weniger? Degreif dazu: „Elisabeth Finck aus Hüttenreute hat sich der Frage mit mehr als 20.000 Fotos von ihren Schuhen, Kleidern, Autos, Essen oder Haustieren genähert. Ihr umfangreiches Archiv ist Ausdruck der in den 1970er Jahren aufkommenden Forschungen von Künstlerinnen nach ihrer weiblichen Identität. Sie begannen nach Bedingungen der Sozialisation und nach Geschlechter-Konventionen zu fragen und fassten diese in ein künstlerisches Konzept. Meist wurde dieses als Serie angelegt, vielfach unter Zuhilfenahme von Fotografien. Die Konzeptkunst entstand in den späten 1960er Jahren. Sie rückte die Idee für ein Kunstwerk ins Zentrum, die ästhetische Umsetzung trat etwas in den Hintergrund.“

Eleganz der Geometrie
„Die Formstrenge geometrischer Gebilde war eine einflussreiche ästhetische Kraft. Nach Oberschwaben gelangte sie über die Hochschule für Gestaltung Ulm und die dort favorisierte Konkrete Kunst. Die Klarheit der Form sollte die Idee zu einer Komposition zum Ausdruck bringen und über die Wirkung der Farbe dominieren“, erklärt der Kurator. „Farben wurden vielfach mit Reklame gleichgesetzt. Manche Künstler begannen mit weißen oder durchscheinenden Materialien wie Polyester oder Acrylglas zu experimentiert. In der Skulptur fanden die konstruktivistischen, also von der Mathematik angeregten Tendenzen, in der Minimal Art einen Ausdruck.“
Heitere Moralität
Die wichtige Maxime moderner Kunst ‚weniger ist mehr‘ wurde außer Kraft gesetzt. Üppig sollte es zugehen, frech und auch frivol. Dominant wurde die Buntheit der Pop Art. Mit Gesten des Rwebellischen attackierten Kunstschaffende Vorstellungen von Sittlichkeit, aber auch von Geschlechterkonventionen. Vielfach wurde die katholische Kirche zum Ziel. Als typisches Beispiel steht in der Ausstellung die Skulptur „Beichtfalle“ sowie einen Hausaltar von Hans-Peter Sprinz. Insgesamt 27 Leihgeber stellten Werke zur Verfügung. Sie stammen aus Museen, Besitz der Landkreise, aus Nachlässen oder von den Künstlerinnen und Künstlern selbst, von denen einige noch leben.
„Eigentlich hatte ich mehr Kunst erwartet, die mit Drogen zu tun hatte“, erklärt Degreif beim Rundgang, „ich habe aber eher wenig gefunden. Um das Bewusstsein zu erweitern formulierten manche unter Zuhilfenahme psychedelischer Substanzen einen Widerspruch zur rationalen Welt, wie auch zum politischen Aktivismus. Sie sahen Drogen als Chance zu einer persönlichen Erweiterung. Die Schwerkraft schien aufgehoben, alles wurde höchst lebendig und gleichzeitig erlebt. In Verbindung mit psychodelischer Musik und Lightshows sollten die Eindrücke in einen umfassenden Raumfluss eingebunden werden.“ Degreif sieht hier eine Entwicklung zum Aufkommen des Comics.

Abstrahierend und abstrakt
„In den 1970er Jahren setzten die meisten Künstler und Künstlerinnen die Tradition moderner Malerei in Oberschwaben fort und hielten am Abbilden fest. Die reine Abstraktion blieb in der Region wie schon nach 1945 die Ausnahme. In feinen Farb- und Strichnuancen schufen sie weiterhin Figurenbilder und Landschaften und nutzten zugleich die malerischen Freiheiten der Abstraktion. Stillleben, Porträt und Tierbild hatten als Genre ausgedient“, erläutert der Ausstellungsmacher.
Allerdings kann in den 1970er Jahren eine Wiederaufnahme künstlerischer Traditionen beobachtet werden, wie Hinterglasmalen, Sticken oder Töpfern. Sie lassen eine neue Wertschätzung der Volkskunst erkennen. Künstler, die eine restauratorische Ausbildung erhalten hatten, setzten altmeisterliche Techniken ein und erweiterten das Spektrum bildnerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Die Individualität bildnerischer Handschriften nahm in diesem Jahrzehnt zu.
Piktogramme für die Olympiade
1966 wurde der Ulmer Otl Aicher zum „Gestaltungsbeauftragten“ für die Olympischen Spiele 1972 in München gewählt. „Mit seinem Team entwickelte er ein System variabler Elemente, die miteinander verwandt waren. Sechs Farben sollten zur Schaffung eines positiven Klimas beitragen, sie fanden sich auf dem gesamten Olympiagelände. Zudem entwickelte das Team viele bis heute gültige Piktogramme olympischer Sportarten. Das Gelände um das Olympiastadion entwarf der lange in Weingarten und Ulm beheimatete Günther Grzimek, das Design des in einer Vitrine zu sehenden Kaffeegeschirrs stammt vom Biberacher Heinz H. Engler, “ fasst Degreif zusammen.
Die Ausstellung präsentiert Werke von 17 Künstlern und 7 Künstlerinnen. Die meisten wurden zwischen 1933 und 1945 geboren. Sie wuchsen während des Nationalsozialismus‘ auf oder in der Nachkriegszeit. Zu sehen sind unter anderen Werke von Willi Siber, Friedrich Hechelmann, Hermann Waibel, Irmgard Wachendorff, Berthold und Edith Kösel, Romane Holderried-Kaesdorf, Oskar Julius Weiss, Klaus Leupolz, Manfred Schad und Dieter Arnold. Ältester Künstler ist Jakob Bräckle (1897 bis 1987), jüngster Werner Kimmerle, geboren 1952.
Die Ausstellung geht bis 19.4.2026. Der Katalog mit 144 Seiten von Dr. Uwe Degreif kostet 19,80 €. www.museum-biberach.de
Autorin Andrea Reck
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