Biberach – Lew Tolstois monumentales Werk „Krieg und Frieden“ über Napoleons Eroberungskrieg in Russland war gerade erst erschienen (1868/69), da marschierten ein Jahr später deutsche Truppen in Frankreich ein, um als Sieger in Versailles Wilhelm I. zum deutschen Kaiser zu proklamieren (18. Jan. 1871). Von nun an war auch das Königreich Württemberg Teil des Deutschen Reiches, und in Biberach gründete 1874 ein Schneidergesell’ mit einem Dutzend unerschrockener Männer einen Ortsverband und waren damit Speerspitze der SPD, die sich erst ein Jahr später in Gotha als deutschlandweite Partei zusammenschloss. Ein guter Grund, um 150 Jahre SPD in Biberach zu feiern. Es sei wahrlich keine einfache Geschichte, begrüßte Martin Gerster mit Stolz die Geburtstagsgesellschaft.
Mit Martin Gerster (53) hat die Biberacher SPD schon seit 2005 einen Bundestagsabgeordneten, der als Mitglied des Haushaltsausschusses über sehr gute und offensichtlich auch freundschaftliche Beziehungen zu vielen seiner Berliner Parteigenossen verfügt. So kam kein Geringerer als der SPD-Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich als Gratulant an die Riss, um zu loben und zu begeistern. Applaus erhielt der Rheinländer im Biberacher „Schützenkeller“ für seine in den Tagen zuvor viel kritisierte Anmerkung zum „Einfrieren“ des Krieges in der Ukraine. Darüber sprach auch Michael Roth, der zweite Gast, der auf Einladung von Gerster nur wenige Tage nach der Geburtstagsfeier aus Berlin angereist kam, um über „Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt“ zu reden. On top geschah zwischen den Besuchen der beiden Genossen auch noch der Angriff des Iran auf Israel.
Michael Roth ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und einer der profiliertesten Außenpolitiker der SPD und vertrat im Forum der Volksbank in Biberach die Kontraposition zu Mützenich. Der Hesse hält „einfrieren“ für brandgefährlich und fordert stattdessen viel mehr und schneller Waffen für die Ukraine sowie eine viel schärfere Sanktionierung des Iran von Seiten der Europäischen Union. Für die Ukraine gelte: nur der Sieg der Ukraine führe zum Frieden und zur Sicherheit von ganz Europa. Man habe früher auf Diplomatie und Scheckbuch gesetzt, um gute Beziehungen zu haben, erklärt der 53-Jährige, „jetzt sage ich: Frieden schaffen mit Waffen“, bekundete der ehemalige Zivildienstleistende.
„Krieg und Frieden“ beschäftigt wahrlich nicht nur die SPD, aber die Partei des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt ganz besonders. Brandt erhielt 1971 als Bundeskanzler für seine Versöhnungspolitik zwischen Ost und West den Osloer Friedenspreis. Der Mauerfall im November 1989 schien die Krönung dieser Annäherung zu sein. Roth, der in Nordhessen im Kreis Bad Hersfeld am „Eisernen Vorhang“ groß geworden ist, bezeichnet sich als „1989er“ mit all den Hoffnungen, die mit dieser weltgeschichtlichen Zäsur einhergingen. Bitter enttäuscht, warnt er 35 Jahre später vor Zugeständnissen an Putin und dessen imperialistischen Ambitionen und verfolgt die abwägende Haltung seines Bundeskanzlers Olaf Scholz zu Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch. Während sein Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich im Biberacher Schützenkeller erklärt: Waffen reichten nicht aus, um einen Krieg zu beenden, „man muss nicht nur darüber sprechen, wie man einen Krieg führt, sondern auch wie man ihn beendet“. „Wenn wir darüber nicht nachdenken, wird es ein endloser Krieg“, erklärt der 64-Jährige, der einst bei dem aus Biberach stammenden Friedensforscher Prof. Dieter Senghaas an der Uni Bremen promovierte. „Es gehört auch zur Demokratie, diese Frage zu stellen, ohne die Souveränität der Ukraine in Frage zu stellen“ und „keinen Diktatfrieden“ zu akzeptieren. „Nicht mehr und nicht weniger habe ich im Bundestag gesagt“, unterstreicht der Fraktionsvorsitzende und erhält von den Geburtstagsgästen Beifall.
Michael Roth ist mit dem Zug gekommen, acht Stunden Fahrt von Berlin nach Biberach. Es bleibt noch Zeit für einen Salat mit Pizzabrot und einem Gespräch mit BLIX vor seinem Vortrag. Der Mann ist temperamentvoll und eloquent, er weiß, sich in Szene zu setzen und sitzt nicht nur seit 1998 als Direktkandidat im Bundestag, sondern war während der Großen Koalition unter drei SPD-Ministern auch Staatsminister im Auswärtigen Amt, bevor er mit dem Regierungswechsel den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss übernahm. Er hat viel zu erzählen, aber wird offensichtlich fraktionsintern nicht mehr gehört – aber dafür ist er oft genug in Talkshows, so war er auch einen Tag vor seinem Auftritt in Biberach (vor 100 ZuhörerInnen Ü50) bei Maischberger (vor einem Millionenpublikum mit Ü?) als außenpolitischer Experte gefragt. Als er nach dem Überfall Russlands bereits am 12. April 2022 als erster SPD-Abgeordneter gemeinsam mit der FDP-Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann und dem grünen Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter in die Ukraine reiste, sei er nach seiner Rückkehr von seiner Fraktion nicht um einen Bericht gebeten worden. Das klingt bitter und ist schwer vorstellbar. Ebenso wie die Tatsache, dass über die vom SPD-Verteidigungsminister Pistorius geforderte „Kriegstüchtigkeit“ weder in der Partei von Willy Brandt noch in der Gesellschaft heftig diskutiert wurde. Die Frage des Journalisten, warum eigentlich „Verteidigungsfähigkeit“ nicht ausreiche und was diese „Kriegsrhetorik“ zu bedeuten habe, bleibt unbeantwortet. Roth sieht sich „auf der gleichen Seite der Barrikade“ wie der Verteidigungsminister und weiß um sein Dilemma. Mit seinem Eintreten mache er sich schuldig, erklärt Roth, „denn Waffen töten Menschen“. Aber „auch wenn wir nichts tun, machen wir uns schuldig, denn das gibt noch mehr Opfer.“
Nichts tun, ist keine Option, da sind sich die beiden SPD-Politiker einig. Im Gegenteil! Beide werben vehement dafür, dass sich die Menschen für ihre Werte und ihre Freiheit einsetzen und die Demokratie verteidigen. Rolf Mützenich bringt es auf den Punkt: „Die Wahlen sind frei, aber sie sind nicht ohne Konsequenz.“
Martin Gerster: Deutschland leistet enorm viel
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Ukraine in einem Umfang und Ausmaß unterstützen müssen, dass sie sich erfolgreich verteidigen kann. Deutschland leistet hier – auch im internationalen Vergleich – schon enorm viel: Ausrüstung, Luftabwehr, Waffen und Munition und auch viel humanitäre Hilfe – unter anderem auch über das THW. Diskussionen um einzelne Waffensysteme halte ich oft für überzogen und wir müssen darauf achten, dass alle Aktivitäten mit unseren Partnern koordiniert und abgestimmt werden. Sie dürfen wir nicht aus der Verantwortung entlassen.
Natürlich müssen mögliche Gelegenheiten und Zeitfenster genutzt werden für Gespräche und diplomatische Bemühungen. Die Ukraine sollte aber in die Lage versetzt werden, aus einer Position der Stärke und auf Augenhöhe zu verhandeln, dass Putin seinen Krieg beendet und aus der Ukraine abzieht. Hierzu müssen Deutschland und die EU weiter einen wirksamen Beitrag leisten, denn die Ukrainerinnen und Ukrainer wehren den Angriff eines autoritären Regimes ab, das auch unsere Sicherheit und unsere Werte wie Freiheit und Demokratie bedroht und die Sicherheitsarchitektur der letzten mehr als 30 Jahre eingerissen hat. Ich nehme das als einhellige Position der SPD-Fraktion wahr.“
Autor: Roland Reck