Altdorfer Wald – Ich biege mit meinem roten Kleinwagen von der schmalen Landstraße ab. Die Abzweigung ist so unauffällig, dass ich mich erst einmal vergewissern muss, dass ich auch wirklich richtig bin. Mein Handy zeigt an: „Waldbesetzung Altdorfer Wald (Alti).“
Kaum zu glauben, aber ich bin am richtigen Ort. Erst einmal deutet nichts auf etwas Außergewöhnliches hin – ein ruhiger, schöner Mischwald mit hohen Nadelbäumen. Erst dann fallen mir die Banner und die handbemalten Holztafeln auf. „Willkommen in der Besetzung im Altdorfer Wald“, begrüßt mich ein großes Transparent. Eine Holztafel weist den Weg zu einem kleinen Trampelpfad, dem ich folge. Spätestens als ich die Fotografien seitlich des Pfades sehe, bin ich überzeugt, hier richtig zu sein. Sie zeigen Szenen von Demonstrationen: zwei einzelne Personen sitzen vor einer schwer bewaffneten Kette von Polizisten im Wald. Und plötzlich tauchen zwischen den Bäumen die Baumhäuser auf, darunter und darauf die Menschen, wegen denen ich hier bin.
Ich habe einen Auftrag. Ich bin 19 Jahre alt und beende demnächst meinen Freiwilligendienst in der Altenpflege und im Kindergarten. Ab Herbst studiere ich Medienwissenschaften und Geschichte in Tübingen, bin freier Mitarbeiter bei BLIX und als solcher neugierig, was mich hier im Altdorfer Wald erwartet. Ich soll über meine AltersgenossInnen schreiben, die seit mehreren Jahren in Oberschwabens größtem Wald zu seinem Schutz auf Bäumen leben.
„Bist du Samuel Bosch?“, frage ich die erstbeste Person, die mir entgegen kommt. Sie deutet auf einen jungen Mann mit langen, hellbraunen Locken, schmalen Gesichtszügen und einem netten Lächeln. Er ist gewissermaßen das Gesicht der „Altis“, der Aktivistinnen und Aktivisten im großen Altdorfer Wald bei Ravensburg. Seit Beginn des Camps im Winter 2020/21 lebt Samuel dort. Zusammen mit den insgesamt rund 150 Menschen, die abwechselnd in dem Protestcamp leben, demonstriert er gegen die geplante Rodung von elf Hektar des Altdorfer Waldes. Auf der Fläche von rund 15 Fußballfeldern soll nach der Rodung eine Kiesgrube entstehen. Mit allem, was dazugehört, wenn man sich an die grüne Lunge einer Region wagt: Wegfall der so wichtigen Bindung von Kohlenstoffdioxid, Zerstörung von Lebensräumen für Tiere und Pflanzen, Lärm und die Gefahr der Verschmutzung des Grundwassers in der Umgebung. Aber auch der Wegfall eines großen Stücks des Naherholungsgebiets, das so vielen Menschen ein Ausgleich ist, kritisieren die Waldschützer.

Ich erkläre Samuel während der Einführung ins Camp, dass ich mich besonders für ihre Lebensphilosophie im Wald interessiere. Ihren Alltag, ihre Gefühlswelt, ihren Blick auf die Welt. Immer wieder bläst der Wind Nadeln auf meinen Schreibblock. Als der Wind weiter zunimmt und ein Schauer aufzieht, fragt Samuel, ob wir das Gespräch nicht „oben in der Küche“ fortsetzen möchten. Ich willige ein und lege meinen Schreibblock in den Korb einer behelfsmäßige Seilbahn. Während ich die steile Holzleiter empor klettere, lasse ich meinen Blick über das Camp schweifen. Ins Auge fällt neben den typischen Protestsprüchen auf großen Bannern und Tafeln die Vielzahl an Regenbogenflaggen und Antifa-Symbolen. Für die Aktivistinnen und Aktivisten hängen Naturschutz und Politik eng zusammen, wie ich später erfahre. Aber zunächst geht es am Ende der selbst gezimmerten Leiter hinein in das zentrale Baumhaus. Ich schwanke zwischen Faszination, Begeisterung und Naserümpfen angesichts der genialen, primitiven, wild zusammengeschusterten und doch bis ins Detail durchdachten Holzkonstruktion. Jede Ecke des Camps, jedes Bauwerk, auch jeder Zentimeter im vielfältig eingerichteten Innenraum des zentralen Baumhaus wurde von Hand erbaut und statt Nägel halten starke Seile die Konstruktionen.
In der gemütlichen Sitzecke des Baumhauses nehmen wir Platz. Immer mehr Aktivistinnen und Aktivisten stoßen dazu, schließlich sind wir zu acht. Ich möchte zunächst von den Anwesenden wissen, was das Leben im Protestcamp mitten im Wald für sie bedeutet. Eine Aktivistin spricht von einem gleichberechtigten, klimafreundlichen, alternativen Versuch des Zusammenlebens. Kaum ein Gegenstand im gesamten Camp sei neu gekauft: Die Baumaterialien für die Baumhäuser seien größtenteils aus dem Müll, bereits entsorgte Fahrräder konnten leicht wieder fahrtauglich gemacht werden, sogar die Feuerlöscher wurden teils gebraucht gekauft. Strom fürs Camp liefern mehrere große, zwischen zwei Bäumen gespannte Solarzellen, die leicht verbogen und deshalb ausgemustert waren. Neben dem praktischen Nutzen dieser Maßnahmen, dem Einsparen von Material und CO², sind diese Formen von Weiter- und Wiederverwendung auch ein Statement: Nicht alles auf der Welt muss neu gekauft oder gebaut werden. Durch Wohnraumverdichtung in Dörfern und Städten und durch mehr nachhaltiges Bauen mit recyclingfähigen Materialien wäre etwa die geplante Kiesgrube im „Alti“ gar nicht erst nötig, ist die Meinung in der Runde.
Es gibt im Camp keine Chefs, keine Rangordnung – einzig und allein eine „Wissenshierarchie“, die aber wiederum eine Chance ist.
Aber nicht nur von einer solchen Wohn- und Bauwende träumen die Menschen der Waldbesetzung. Ein Aktivist beschreibt mir das Camp als den Versuch, eine anarchistische Utopie zu leben, also ohne jegliche Form der Herrschaft. Es gebe im Camp keine Chefs, keine Rangordnung – einzig und allein eine „Wissenshierarchie“, die aber wiederum eine Chance sei. Wer im Camp über besondere Kenntnisse verfüge, könne und solle diese etwa an den „Skillshare-Tagen“ an andere Menschen weitergeben. So würden alle von den Stärken einzelner profitieren. Während dieser Skillshare-Tage gebe es daher im Camp Workshops, Filme, Musik, Diskussionsrunden und vieles mehr. Übrigens nicht nur für andere Aktivistinnen und Aktivisten, sondern für alle Interessierten – jeder, der mit einer positiven Intention ankommt, werde willkommen geheißen.

Welche Erfolge die Anwesenden schon erzielen konnten, möchte ich als nächstes wissen und erfahre: In Zusammenarbeit mit den Aktivistinnen und Aktivisten legten die Gemeinden Baienfurt und Baindt Klage gegen den Regionalplan ein, der den Kiesabbau zulässt und nach Meinung der Gemeinden und der Aktivisten das Grundwasser belasten würde. Durch die äußerst schnelle Errichtung der Baumhäuser im Jahr 2021, auf die die Aktivistinnen und Aktivisten mächtig stolz sind, konnten sie noch vor der Entscheidung des Regionalverbands viel öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema Kiesabbau lenken. Für den Fall der Rodung mussten sich Behörden und Polizei ab diesem Zeitpunkt auf einen langwierigen und aufwendigen Einsatz einstellen. Denn wenn sich Menschen in den Bäumen befinden, dürfen diese aus Sicherheitsgründen nicht gefällt werden. Dieses Prinzip wurde auch in anderen bekannten Waldprotesten wie im Hambacher Forst angewendet. Und Samuel Bosch berichtet von einem vergleichbaren Protest mit Beteiligung vieler der Protestierenden aus dem Altdorfer Wald im Forst Kasten bei München. Dort wurde so viel Aufmerksamkeit für eine geplante Abholzung erzielt, dass Bürgerinitiativen und die Aktivistinnen und Aktivisten es schafften, dass die Fläche nicht verpachtet und die dortige Kiesgrube nicht erweitert wurde.
Mich interessiert, wie ihre Zukunftspläne aussehen, wenn es zum Worst Case käme: der Räumung des Camps durch die Polizei, die Rodung der Bäume und den Bau der Kiesgrube. Dies werde wahrscheinlich passieren, in spätestens anderthalb Jahren, befürchtet die Gruppe. „Entmutigt euch das?“, frage ich. Entschlossenes Kopfschütteln der Anwesenden. eMit dieser Frage habe ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Zuerst sollen ihr Protest und Widerstand die Räumung und sollte das Camp schließlich doch geräumt werden, würden die nächsten Projekte bereits auf die Aktivistinnen und Aktivisten warten. Die Gemeinschaft, die Identität, der moralische Kompass, der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Tuns – all das sei allen, die bislang im Camp waren, nicht mehr zu nehmen und werde sich stetig vermehren. Das Gefühl der Verantwortung, die eigenen Privilegien als Bürger eines demokratischen Landes zu nutzen, dieses Bewusstsein, dieses Grundbedürfnis – das sei der Antrieb für sie, erklärt mir eine Aktivistin mit der Zustimmung vieler Anwesenden. „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“ – so der Refrain des Lieds „Deine Schuld“ von „Die Ärzte“. Das Lieblingslied einer anderen Aktivistin. Kurz gesagt, das Camp sei Mittel zum Zweck: Ein Versammlungsort für die Planung von Protesten und Blockaden, ein Ort der Weitergabe von Wissen, von Skills, ein Sprungbrett in den Aktivismus, fasse ich korrekt zusammen. Und der Wald ist Medium und Lebenselixier.
„Ich empfinde Respekt für diesen Mut. Und für den Mut, sich gegen Konzerne und Behörden zu stellen, auf dem Boden des Gesetzes und dennoch gegen den Strom zu schwimmen.“
Mir scheint, es ist auf vielerlei Weise Hinwendung zum Wesentlichen. Sieht man einmal vom Internetzugang, Musikboxen und so manchen Snacks im selbstgebauten Regal ab, leben die Aktivistinnen und Aktivisten mit dem absoluten Minimum, das der Mensch braucht.
Zum Ende meines Besuchs hat sich mein verhaltenes Misstrauen angesichts des so alternativen, ungewöhnlichen Lebenswandels der „Waldmenschen“ gewandelt. Nein, so ein Leben wäre nichts für mich. Nein, ich stimme den politischen Ansichten in vielem so nicht zu. Aber Respekt empfinde ich. Respekt für ihren Verzicht auf Komfort, der für ihre Altersgenossen und deren Eltern selbstverständlich ist: fließendes Wasser, unbegrenzt Strom, Toiletten mit Spülung, reichhaltiges Fleischessen, Autofahrten zu Fastfoodläden, Flugreisen in den Urlaub. Ich empfinde Respekt für diesen Mut. Und für den Mut, sich gegen Konzerne und Behörden zu stellen, auf dem Boden des Gesetzes und dennoch gegen den Strom zu schwimmen. Aus der Überzeugung heraus, das Richtige zu tun. Nicht wenige würden diesen Aktivismus als überzogen bezeichnen: als radikal.
Das ist unser letztes Thema in der Diskussionsrunde. Während der Wind rauscht und Regen an die Glasscheiben prasselt, frage ich die Anwesenden: „Würdet ihr euch als radikal bezeichnen?“ Radikal sei ein durchaus zentrales Wort für sie, meint ein junger Mann. Am Ende der Diskussion steht eine rhetorische Frage, über die ich jetzt noch nachdenke: „Sind wir die Radikalen, weil wir gegen die Abholzung eines Waldes protestieren? Für mehr Naturschutz und soziale Gerechtigkeit demonstrieren? Sind nicht viel eher jene die Radikalen, die einen Wald abholzen? Die Profit und Wachstum über jegliche negative Auswirkung stellen? Jene in der Welt, die Mensch und Natur ausbeuten? Wer sind wirklich die Radikalen?“ Vielleicht können wir uns alle eine Scheibe von den „Radikalen“ im Altdorfer Wald abschneiden: von ihrer Disziplin, ihrem Durchhaltevermögen, psychisch wie körperlich, ihrem Mut, alternative, steinige Wege zu gehen. Und bei all dem die Hoffnung nicht zu verlieren. Bereits das nächste Ziel vor Augen haben. Und den Wald nie aus den Augen zu verlieren.
Autor: Benjamin Fuchs
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