Am Tag danach lese ich in der Schwäbischen Zeitung: „Korallenriffe sind fast verloren, der Amazonas wankt: Forscher warnen vor Domino-Effekten, die unser Leben und die Natur unumkehrbar verändern könnten.“ Es geht um die eindringliche Warnung von 160 Klimaforschern aus 23 Ländern, die feststellen: „Wir steuern rapide auf mehrere Kipppunkte des Erdsystems zu, die unsere Welt verändern könnten und zerstörerische Folgen für Menschen und Natur hätten.“ (Schwäbische, 14. Oktober 2025, S. 11) Ein Kipppunkt bezeichnet den Moment in einem Prozess, der ein System irreversibel verändern kann. Ich verstehe: dann hilft nur noch beten.
War es das, was am Abend vorher ein CDU-Gemeinderat im Kursaal in Bad Wurzach zu bedenken gab, indem er mahnte: „Die Welt und die Stadt haben aktuell noch ganz andere Probleme.“ Seine Schlussfolgerung: Er und 16 weitere Mitglieder des Gemeinderats beschlossen, dass die Stadt aus dem Prüfprozess eines Biosphärengebiets aussteigt. 17 zu vier lautete das Abstimmungsergebnis, das einen Kipppunkt bezeichnen könnte. Nämlich den Anfang vom Ende eines so genannten Biosphärengebiets in Oberschwaben, das zum hehren Ziel hat, das Leben der Menschen mit den Ressourcen und der Vielfalt der Natur in Einklang zu bringen. Worum geht es?

Es geht um Nachhaltigkeit. Es geht um einen kleinen Beitrag zur möglichen Verhinderung von verheerenden Kipppunkten. Es geht um ein Modell, das die beteiligten Kommunen anhält, ihre Biosphäre nachhaltig zu nutzen und zu schützen. In Oberschwaben sind das insbesondere die Moore. Wozu herausragend das Wurzacher Ried als eines der bedeutendsten Hochmoore Mitteleuropas gehört. Deshalb kommt der Entscheidung des Wurzacher Gemeinderats am 13. Oktober so eine wichtige Bedeutung zu. Denn Bad Wurzach steigt aus dem laufenden Prozess der Sondierung, Information und Diskussion aus und schließt damit seine Teilnahme an einem möglichen Biosphärengebiet aus, über das seit vier Jahren, seit es im grün-schwarzen Koalitionsvertrag steht, beraten wird. Wozu es ein Prozessteam in Bad Waldsee gibt sowie zwei Vereine, die das Pro und Contra vertreten. Für die „Allianz für Allgäu-Oberschwaben“, den Gegnern des Projekts, einem Bündnis aus Adel und Bauern, war der lange Abend im Wurzacher Kursaal ein wichtiger Etappensieg, der von der großen Mehrheit der anwesenden ZuhörerInnen mit langem Applaus gefeiert wurde. „Etwa 200 Bürger, zumeist Bauern und Jäger aus Bad Wurzach und – überwiegend – aus dem weiteren Umkreis, waren gekommen, um der Biosphären-Entscheidung des Bad Wurzacher Gemeinderates beizuwohnen. Nach einer anderthalbstündigen Aussprache ergab sich die oben genannte Mehrheitsentscheidung. Auch Bürgermeisterin Alexandra Scherer votierte für den Ausstieg“, berichtet der Lokalreporter Ulrich Gresser in der Bildschirmzeitung.
Emina Wiest-Salcanovic, die Sprecherin der CDU-Fraktion, die den Antrag auf Ausstieg eingereicht hatte, wehrte sich bei der Aussprache gegen den Vergleich mit dem Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Auf das seit 2008 bestehende Biosphärengebiet wird von Befürwortern immer wieder Bezug genommen. Egal wer aus dem Biosphärengebiet Schwäbische Alb zu Wort kommt, ob Bürgermeister, Touristiker, Bauern oder Wirtschaftsvertreter, sie alle sind positiv gestimmt. So zuletzt der Bürgermeister von Schelklingen Ulrich Ruckh, der bei einer Informationsveranstaltung nur wenige Tage vor der Abstimmung im gleichen Saal in Bad Wurzach die positive Wirkung des Modellprojekts auf seine Kommune schilderte und darauf verwies, dass der Zuspruch in seiner Gemeinde und von anderen Gemeinden für das Biosphärengebiet immens sei. Sein Plädoyer fruchtete nicht. Die Wurzacher Gemeinderätin lässt es nicht gelten. Wir haben alles das bereits, was dort erst aufgebaut werden musste zum Beispiel Hofläden, erklärt die Kommunalpolitikerin selbstzufrieden. Deshalb: „Die Landwirte haben genug mit Bürokratie zu tun. Wir werden für den Ausstieg plädieren.“

Das war ganz im Sinne der Bauern im Gremium und den vielen im Publikum, deren Kampagne gegen das Biosphärengebiet mit blaublütigem Sponsoring und populistischen Slogans wie „Vernunft statt Bürokratie“ und „Vernunft statt Fremdbestimmung“, angebracht auf Transparenten am Straßenrand, offensichtlich verfing. Misstrauen und Eigennutz bestimmen die Argumentation.
Einer Unterschriftenliste gegen das Projekt unterschrieben von 107 Landwirten und 31 Jägern schlossen sich auch 76 Unternehmen aus der Region an, die der Bürgermeisterin (CDU) noch während der Sitzung übergeben wurde. Die vielen Stimmen aus der Bevölkerung hätten bei ihr „die Alarmglocken“ läuten lassen, begründet wiederum die Bürgermeisterin ihr Votum. Und die „Allianz“ verweist in ihren Stellungnahmen immer auch auf die IHK Bodensee-Oberschwaben, deren Vollversammlung im Dezember 2024 der Position von IHK-Hauptgeschäftsführer Sönke Voss zustimmte: „Wir sehen nach Analyse und Abwägung aller bislang vorliegenden Informationen und Rückmeldungen aus der Perspektive der Gesamtwirtschaft mehr Risiken als Chancen“, weshalb man den Gemeinderäten eine „Zustimmung zu einem Beitritt“ nicht empfehlen könne. Auch hier empfiehlt sich ein Blick in die Nachbarschaft auf der Schwäbischen Alb, wo seit immerhin 17 Jahren eine Expertise gewachsen ist, die offensichtlich in Weingarten, dem Sitz der IHK Bodensee-Oberschwaben, nicht zur Kenntnis genommen wird. Ruft man in Reutlingen bei der dortigen Wirtschaftskammer an, ist man dort baff erstaunt, über die Frage, ob das Biosphärengebiet zu nennenswerten Problemen mit der örtlichen Wirtschaft geführt habe. Das sei „schon lange kein Thema, weil es gut läuft“, erklärt die Pressesprecherin und mailt zurück, nachdem sie sich noch bei zwei Fachleuten aus dem Haus informiert hatte, und wiederholt ihre erste spontane Einschätzung – es gäbe keine negativen Rückmeldungen. Und weil die freundliche Pressefrau empfiehlt, sich doch direkt bei den Kommunen vor Ort zu erkundigen, stößt man bei der Recherche auf ein Interview in der IHK-Mitgliederzeitschrift „Die Wirtschaft zwischen Alb und Bodensee“ (dazwischen liegt bekanntlich Oberschwaben) mit dem bereits genannten parteilosen Bürgermeister von Schelklingen, der schon im November 2023 von einem Mitarbeiter der IHK Ulm nach seinen Erfahrungen mit dem Biosphärengebiet gefragt wird.
Das Interview sei zur Lektüre und „Analyse“ empfohlen. Josef Röll von der IHK Ulm fragt Ulrich Ruckh, der als Kämmerer und Bürgermeister von Schelklingen das Biosphärengebiet Schwäbische Alb von Anfang an kennt, nach seinen Erfahrungen. Seine letzte Frage lautet:
„Was können Sie den Kollegen in der Region Allgäu-Oberschwaben auf den Weg geben? Gibt es etwas, von dem Sie sagen: ‚Macht nur diesen Fehler nicht, den haben wir schon gemacht‘?“
Ulrich Ruckh: „Ich kann bloß aufrufen, mutig zu sein. Vielleicht einfach mal zu schauen, was bei uns gut gelungen ist und zu überlegen, ob die Idee passt. Oberschwaben und die Schwäbische Alb sind beide einzigartig, jeder sollte mit seinen Stärken arbeiten und nicht blind kopieren. Es gilt, auch mal etwas zu riskieren und wenn es nicht klappt, zu sagen, es war einen Versuch wert.“
Das Biosphärengebiet muss einen Versuch wert sein, wenn man um die Kipppunkte weiß. Und wer es wissen will, der kann es wissen. Es gibt keine Ausrede vor den Enkeln.
Link zum Interview mit Ulrich Ruckh:
https://ihk-wab.epaper-publishing-one.de/kiosk/reader/wab.wab_11_2023
Autor: Roland Reck
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