Journalist Patrik Baab in Karsee über seine Beobachtungen auf beiden Seiten der Front
Karsee – Ukraine-Krieg. Er wütet seit fast zwei Jahren. Was findet dort wirklich statt? Das wollte der ehemalige NDR-Journalist und Buchverfasser Patrik Baab genauer wissen. Und reiste persönlich Monate lang in Kriegsgebiete „auf beiden Seiten der Front“. So der Titel des jüngsten Buchs von Baab. Es stand schon nach wenigen Wochen auf der „Spiegel“-Bestseller-Liste. Baab trat am Dienstag, 9. Januar, im „Adler“-Saal in Karsee auf. Es war brechend voll.
Dienstagabend, 9. Januar 2024, 19.00 Uhr. Der „Adler“-Saal Karsee fasst rund 120 Leute, sagt Mitveranstalter Joachim Kaiser aus Wangen. Doch schnell stellt sich heraus: Immer neues Publikum drängt über die Treppe zum Saal nach oben. „Ich bin wirklich überrascht“, sagt Kaisers Organisations-Kollegin Iris Cassier. Weitere Stühle werden reingetragen. Damit diejenigen, die immer noch keinen Platz finden, trotzdem den Vortrag hören und sehen können, bietet Kameramann Marco Ligon an, das Ganze über Direkt-Stream auf den Bildschirm im Nebenzimmer des gemütlichen Lokals zu übertragen. Persönlich greifbare Begegnung und Netz-Information in einem Haus. 160 Personen können’s unter einem Dach wahrnehmen, berichtet Kaiser. Die gefilmte Veranstaltung lässt sich inzwischen auch in YouTube finden: https://youtube.com/live/ORn5bNMPA28
Erfahrener Kriegsreporter
Patrik Baab hat über Jahrzehnte Russland und die Ukraine besucht, berichtet er in Karsee. Das heißt: Dort pflegt er viele Kontakte – vom einfachen Bauern bis in Regierungskreise. Was Krieg ist, wusste Baab bereits von mehreren Besuchen anderer Gebiete – etwa in Afghanistan oder auf dem Balkan. So erklärt er etwa, dass ein erfahrener Front-Reporter niemals neben das Auto pinkelt – sondern immer hinter dem Fahrzeug. Denn in den Seitengräben der Wege drohen Minen.
Baab berichtete für den hessischen, norddeutschen und saarländischen Rundfunk. Der 1959 geborene Politikwissenschaftler veröffentlichte mehrere Bücher. Sein neuestes: „Auf beiden Seiten der Front“. Der Titel verrät, dass Baab einer bewährten „journalistischen Handwerksregel“ folgte: audiatur et altera pars – „Auch die andere Seite soll gehört werden.“ Das brachte ihm bereits während seiner Frontbesuche beißende Kritik in der deutschen Heimat ein. Laut Baab vor allem geäußert von „Sitzredakteuren, die den Bildschirm mit der Realität verwechseln“. Zwei Hochschulen kündigten ihren Lehrauftrag an Baab. Er klagte – und gewann vor Gericht gegen die Universität Kiel. Seitdem bekomme er unzählige zustimmende Schreiben und Hilfsangebote, erzählte Baab der journalistischen Kollegin Milena Preradovic („Punkt Preradovic“).
In Karsee liest Baab nicht allein aus seinem Buch vor. Er stellt sich den Fragen von Dr. Rainer Rothfuß aus Lindau. Der studierte Geopolitik-Analyst sieht sich an diesem Abend nicht als AfD-Bundestagsabgeordneter eingeladen, sondern als Ideen-Geber, Veranstalter und Begleiter jährlicher Reisen von (Süd-)Deutschland nach Russland seit 2016. Gemeinsame Fahrten, angeboten unter dem Titel „Druschba“ (dem russischen Wort für Freundschaft”). Einigen, die bei „Druschba” mitgefahren waren, hören zu bei Baabs Auftritt in Karsee. Rothfuß: „Wir kannten ja die Russen nicht – so wie andere etwa Frankreich durch Austauschprogramme kennen. So nahmen wir’s selber in die Hand, mit Russen zu sprechen.” Eine glaubwürdige Form der „Volksdiplomatie“, sagt Rothfuß. Damit sieht sich Rothfuß auf den Spuren der Friedenspolitik Willy Brandts. Ins Feindbild vom rechtsradikalen AfDler will der Lindauer Entwicklungshelfer nicht so recht passen. Mit Photovoltaik und Solarthermie auf dem Dach fährt er viel Elektro-Fahrrad. Seine Frau Angela galt in Lindau lange als führende Lehrerin für Flüchtlinge, die Deutsch lernen möchten. „Um die muslimischen Frauen kümmere ich mich dabei besonders, damit sie nicht mehr so stark von ihren Männern abhängig sind“, sagt sie. Ihr Mann Rainer Rothfuß: „Mein erster und bester Freund ist Türke.“ Deshalb betrachte Rothfuß es auch als Falschmeldung, der AfD Massen-Abschiebe-Pläne zu unterstellen.
Auf Dr. Rothfuß’ Frage, wie Baab sich denn auf Reportage-Reisen in Kriegsgebiete vorbereite, antwortet Patrik Baab: „Monate zuvor.“ Nachdem er die Ergebnisse seiner Vor-Erkundungen auf 30 bis 40 Seiten notiert habe, stelle er dann immer wieder fest: „Vor Ort ist dann das ganz anders.” Denn: „Sie sind der Situation ausgeliefert.” Und da bleibe nur die Möglichkeit: „In einem Kriegsgebiet blenden Sie die Ängste aus.” Nachvollziehbar. Denn: „Der Krieg ist das Verbrechen, weil es darum geht, möglichst viele von der Gegenseite auf möglichst grausame Weise abzuschlachten.” Deshalb vor Ort an der Front: Abschalten der Gefühle. Mit alles anderem als leichten Folgen für den Reporter. Nach der gefährlichen Reise gelte nämlich: „In Traumbildern holt mich die Angst ein, die ich im Kriegsgebiet ins Verließ am Grund der Seele gesperrt hatte. Granatbeschuss, Minen, Verhaftungen wirbeln in wirren Fetzen durcheinander.”
Krieg. Ein grausames Gemetzel, von dem Außenstehende kaum wissen, wie brutal es wirkt. Besuch Baabs in Mariupol. Nach Eroberung durch die Russen zeigt sich die Stadt schwer zerstört. Zehntausende Tote. Etwa auch durch russische Buratino-Raketen. Inhalt: 30 weitere Raketen. Bei ihrem Einschlag verbreiten sie einen „explosiven Film“. Seine Explosion löst einen “riesigen Feuerball” aus. Er verbrennt alles – auch Menschen. Auf die Explosion folgt eine Druckwelle und dann Vakuum-Unterdruck – mit schweren Verletzungen vor allem innerer Organe. Ähnlich zerstörerisch: US-amerikanische HIMARS-Raketen.
„Was die Russen erobert haben, geben sie nicht mehr her“
So grausig die Ereignisse, die Baab schildert, so ruhig wirkt meistens seine Stimme beim Vortrag in Karsee. Beinahe zurückhaltend – aber in klar abgewogenen Worten. Seine Einschätzung: Der Krieg dauere noch lange. Und was russische Truppen erobert hätten, gebe Moskau kaum wieder her. Schon gar nicht, wenn die Bevölkerung dort hauptsächlich russisch spreche. Massive Zerstörungen – bei hohen Folgekosten für alle Beteiligten. Über 900 Milliarden Euro? Letztlich werde das Land dann wohl geteilt. Der Ukraine-Krieg kenne eigentlich nur Verlierer – außer denen, die Waffen liefern. Die US-Rüstungsindustrie gebe Geld sowohl für den Wahlkampf der US-Republikaner als auch der US-Demokraten. Sicher sei außerdem, dass kaum einer der Kriegsgewinnler persönlich die Front besucht habe.
BRICS oder der Papst
Als jemand Patrik Baab fragt, ob er irgendwelche Zeichen für ein Ende des „Abnutzungskrieges“ in der Ukraine sähe, antwortet der Vor-Ort-Reporter zuerst: “Nein”. Dann setzt Baab nach: Wenn jemand Friedensverhandlungen für die Ukraine wirklich auf den Weg bringen könne, dann die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) – oder der Papst.
Julian Aicher
Der Vortrag in Youtube
Der ganze Vortragsabend in Karsee mit Patrick Baab in Youtube unter: https://youtube.com/live/ORn5bNMPA28
Das Interview mit der “stattzeitung”
In Karsee wurde Patrik Baab vor seinem Vortrag im Saal noch von der Journalistin Stef Manzini von der Überlinger „stattzeitung“ interviewt. Der Wortlaut des Gesprächs: Im Fadenkreuz des Mainstream. Patrik Baab. Kriegsreporter. – +++freie presse bodensee+++ (stattzeitung.org)
„Es geht um die fetten Böden“
Patrik Baab schildert im Interview mit der „stattzeitung“ die ökonomischen Interessen der westlichen Kriegspartei. Unser Reporter Julian Aicher hat entscheidende Sätze aus dem Interview notiert. Baab: „Ich habe gerade gesagt, dass ich neulich im Raum Pirna im ostsächsischen Raum gelesen habe. Und es war mit dem Veranstalter abgesprochen, dass mich ein Taxi zurückbringt nach Dresden zum Hauptbahnhof. Da fuhren wir in Pirna rein. Und in Pirna stehen zwölf nagelneue riesige Getreidespeicher. Und ich frage den Fahrer: „Was ist denn da?“ Und da sagte er: „Ja – hier kommt das ukrainische Getreide aus Polen an, wird zwischengelagert – und geht per Zug weiter.“ Und da muss man sagen: In der Ukraine haben sich internationale Agrar-Konzerne in die sehr fruchtbaren Schwarzerde-Böden eingekauft. Das EU-Assoziationsabkommen, Artikel 404, zwingt die Ukraine, ihren Markt zu öffnen für genmanipuliertes Saatgut. Der Mindestlohn in der Ukraine liegt derzeit bei knapp über 1,40 Euro. Das heißt: Auf extrem produktiven Böden mit genmanipuliertem Saatgut mit Billigarbeitskräften werden Marktpreise erzielt, welche die Bauern hier im Allgäu, aber auch in Schleswig Holstein, auch in anderen europäischen Ländern, auch in Polen nie erreichen können. Das heißt: Die ukrainischen Agrarprodukte, die aber alle schon – oder zu einem großen Teil – in der Hand internationaler Konzerne sind, überschwemmen den europäischen Markt, den Markt der EU – und treiben sozusagen die heimischen Bauern in den Ruin. Jetzt muss man dazu wissen: (…), Monsanto, John Deere: Das sind ein paar dieser Konzerne. Die gehören wieder zum Teil internationalen Finanzinvestoren, die auch wieder in die Rüstungsindustrie investiert sind. Und da merkt man, was das für ein Spiel ist. Es ist völlig gleichgültig, womit diese Finanzinvestoren ihr Geld verdienen – mit Krieg oder mit dem Ruinieren der europäischen Bauern.”
Der „Adler“-Saal Karsee beim Vortag von Patrick Baab am 9. Januar 2024