Der Tag, als der Bischof kam
Seibranz / Diepoldshofen – Am 26. April 1945 – zwei Tage vor der Besetzung des Raumes Diepoldshofen / Seibranz durch französisches Militär, zwei Tage vor dem faktischen Kriegsende in unserer Region – ließ Hauptmann Otto Siebler im Diepoldshofer Wald Todesurteile gegen 15 junge Männer, wohl Deserteure, vollstrecken. Zur selben Zeit, drei Kilometer entfernt, versteckten sich sechs junge Burschen, alle um die 16 Jahre alt, in einem Schweinestall. Auch sie waren fahnenflüchtig, waren vor dem Krieg geflohen. Gerettet wurden sie von Theresia und Josef Angele. Leonhard Angele, der Enkel, berichtet uns von der stillen Heldentat:
Der Einödhof liegt am Fuße des Wachbühls, einem Moränenhügel auf dem Zeiler Rücken. Der Tag beginnt wie immer, früh aufstehen, die Tiere im Stall versorgen, Frühstück mit Häbresmus. Danach geht Josef Angele, geb. 1889, nach Seibranz ins Rathaus. Er ist seit Kriegsbeginn 1939 Bürgermeister der kleinen Gemeinde. Sein Vorgänger Gebhard Riss war an der Front, deswegen übernahm Josef Angele als Stellvertreter dessen Amt.
Der weitere Verlauf dieses Tages entwickelte sich acht Tage vor dem örtlichen Kriegsende dramatisch. Die 50-jährige Ehefrau und Bäuerin, Theresia Angele, eine sehr gläubige, selbstbewusste und intelligente Frau, vernahm ein Klopfen an der Hintertür des Hauses. Sie öffnete und vor ihr standen sechs uniformierte 16-Jährige, fahnenflüchtig, und baten unter Todesangst um Essen, Trinken und Unterschlupf. Meine Oma entschied schnell, wohlwissend, dass diese Entscheidung lebensgefährlich war. Etwas abseits vom Hof stand ein kleiner Schweinestall leer. Die sechs jungen Männer mussten Stroh aus der Tenne holen, um sich im Schweinestall einen Schlafplatz einzurichten. Sie durften ihr Versteck tagsüber nicht verlassen, um nicht entdeckt zu werden. Theresia Angele versorgte die sechs Burschen mit einfachstem Essen, Kartoffeln, Milch und Brot. Vor allem versuchte sie, die Uniformen gegen zivile Kleidung einzutauschen beziehungsweise sie umzuarbeiten, was für sechs Personen nicht einfach war. Ihr Ehemann Josef Angele unterstützte die Entscheidung seiner Frau, denn für die Beiden war christliche Nächstenliebe Pflicht. Josef Angele war, obwohl Bürgermeister, nicht Mitglied der NSDAP und stand deshalb unter zunehmendem Druck der Kreisleitung, weil er als Amtsperson die Mitgliedschaft verweigerte. Er blieb standhaft und drohte, sein Amt aufzugeben, sollte er weiterhin zur Mitgliedschaft gezwungen werden.
Die jungen Männer, wohl Angehörige des Volkssturmes, wurden in ihrem Versteck verpflegt. Keiner wusste, wie lange der Krieg noch dauern würde. Allerdings ahnte mein Großvater aufgrund des unerlaubten allabendlichen Hörens eines englischen Radiosenders, dass sich die Frontlinien längst auf deutschem Gebiet befanden und deshalb der Krieg nicht mehr lange dauern konnte. Bei Strafe war es verboten, Auslandssender zu hören, deshalb mussten die Töchter bzw. die Ehefrau vor den Fenstern Wache stehen, damit niemand mitbekam, welchen Sender er hörte.
Nach nervzehrenden Tagen war es soweit und der Krieg war zu Ende. Die sechs jungen Männer gingen dankbar ihren Weg und die Spuren und der Kontakt verloren sich.
Meine Oma starb 1964, mein Opa 1972. Es war Anfang der 90er-Jahre, als an einem Wochentag ein fremder Mann vor der Haustüre stand und sich nach Theresia und Josef Angele erkundigte. Es war einer jener sechs Soldaten, welche von meinen Großeltern versteckt und gerettet wurden. Der Fremde, ein Anfangssechziger, berichtete von der unbeschreiblichen Angst, welche sie damals durchgestanden hatten. Meine Großeltern hatten den jungen Soldaten verschwiegen, dass zwei Tage vor dem örtlichen Kriegsende im nur drei Kilometer entfernten Diepoldshofen 15 fahnenflüchtige Soldaten hingerichtet wurden. Der Besucher äußerte seine Dankbarkeit und bedauerte es, nicht schon viel früher unsere Familie aufgesucht zu haben. Zu den fünf Kameraden hatte er den Kontakt verloren.
Der erste Besuch war kurz und wir erfuhren nur den Nachnamen: Sorg. Bei seinem zweiten Besuch war auch seine Frau dabei und die Unterhaltung war sehr angeregt und hochemotional. Zum Abschied legte er ein von ihm geschriebenes und signiertes Buch auf den Tisch: „Auf weitem Raum: Bilanz eines Bischofs“, erschienen 1993. Um seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, wollte er unserer Familie etwas zugutekommen lassen. Meine Eltern lehnten das Angebot ab und baten den Bischof, dort zu helfen, wo es notwendig war. Da meine Eltern damals einen ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen unterstützten (der im Krieg auf dem Hof Angele war), baten sie Herrn Sorg, ebenfalls an dieser Stelle aktiv zu werden. Diesen Vorschlag nahm Herr Sorg gerne an. Seine Hilfe ging über eine kirchliche Organisation direkt an den polnischen Freund.
Der fremde Herr, gerettet 1945 von Allgäuer Bauersleuten, es war der württembergische Landesbischof Theo Sorg.
Inzwischen sind meine Eltern sowie auch Theo Sorg und dessen Frau verstorben und diese Episode ist nur noch ein Stück Erinnerung, das in meinem Herzen aufbewahrt wird. Die Begebenheit ist für mich ein beindruckender Beweis, wie kraftvoll die Liebe zu den Mitmenschen sein kann und wieviel Mut daraus entstehen kann.
Leonhard Angele
Leonhard Angele, Enkelsohn von Josef (1889 – 1972) und Theresia Angele (1895 – 1964), hatte im Gespräch mit der Bildschirmzeitung, in dem es um einen anderen Sachverhalt gegangen war, die hier beschriebene Begebenheit am Rande erwähnt. Auf Drängen der Redaktionsleitung hat er diese wahre Geschichte aufgeschrieben, 80 Jahre nach Kriegsende, datiert auf den 6. August 2025.

Der Hof Angele in Starkenhofen im Jahre 1949. So hatte er ausgesehen, als die sechs fahnenflüchtigen jungen Burschen im April 1945 auf der anderen Seite des Anwesens anklopften. Gemacht wurde diese Aufnahme vier Jahre später von Georges Picot, einem französischen Besatzungssoldaten, der als Kartograf und Fotograf beim Militär diente. Georges Picot und die Angele-Tochter Josefine (1921 – 2011) wurden ein Paar, heirateten um 1950 in Frankreich. Im Hauseingang, hinter der Wäsche, ist Mutter Angele erkennbar.












