Friedrich-Schiedel-Literaturpreis an Prof. Ewald Frie verliehen
Bad Wurzach – In festlichem Rahmen, mitgestaltet von der Stadtkapelle, wurde am 28. September im Kursaal der Stadt Bad Wurzach der Friedrich-Schiedel-Literaturpreis an Prof. Dr. Ewald Frie verliehen. Der Historiker erhielt den im ganzen deutschsprachigen Raum beachteten Preis für sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“. Eine bemerkenswerte Laudatio hielt Dr. Johan Schloemann, Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung”; Schloemann würdigte Fries Werk, das den agrarsozialen Wandel im Münsterland im vergangenen Jahrhundert schildert, mit Bezügen zu den bäuerlichen Wurzeln seiner eigenen Familie. Nachstehend der ausführliche Bericht über die Feierstunde:

Der Friedrich-Schiedel-Literaturpreis wird im Zwei-Jahres-Rhythmus für Werke vergeben, „die Inhalte der Geschichte des deutschsprachigen Raumes seit etwa 1715 einem breiten Leserkreis menschlich bewegend und in würdiger, literarisch wertvoller Form nahebringen.“ So die Bedingungen, die ein Werk erfüllen muss, um mit dem mit 10.000 Euro dotierten Literaturpreise ausgezeichnet zu werden. Diese Bedingungen des Preises sieht die Jury, die unter dem Vorsitz des Münchner Rechtsanwaltes Dietrich von Buttlar sich einstimmig für Fries Buch entschied, bei „Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom Bäuerlichen Leben“ in vorbildlicher Weise erfüllt. Das Werk berichtet davon, wie die früher stolze bäuerliche Landwirtschaft im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwindet.
Gekommen waren sieben Geschwister von Ewald Frie
Bürgermeisterin Alexandra Scherer konnte zu der Preisverleihung neben dem Laudator Dr. Johan Schloemann, den Mitgliedern der Jury – unter anderem mit dem Neumitglied Jo Lendle, Vorstand des Hanser-Verlages in München – auch den Co-Vorstand der Schiedel-Stiftung, Bad Wurzachs Bürgermeister a.D. Roland Bürkle, den Landtagsabgeordneten August Schuler, zahlreiche Gemeinderäte, Ortsvorsteher, Vertreter von Schulen und Kindergärten sowie der Vereine begrüßen. Darüberhinaus hatten sich auch sieben der zehn Geschwister – und damit die Hauptfiguren in dem Buch – aus allen Teilen der Republik auf den weiten Weg nach Bad Wurzach gemacht.

Ewald Frie mit sieben seiner Geschwister.
In einer Reihe mit Helmut Schmidt, Golo Mann und Martin Walser
Prof. Ewald Frie ist der 22. Preisträger und steht nun in einer Reihe mit Golo Mann, Martin Walser, dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt oder Joachim Fest (die komplette Liste der Preisträger finden Sie hier in der Bildschirmzeitung unter „Downloads”).

Bad Wurzachs Bürgermeisterin Alexandra Scherer zitierte aus der Begründung: Fries Art zu schreiben sei „kenntnisreich und wortgewandt, dabei durchaus lakonisch, aber nie larmoyant, melancholisch oder verklärend”.
Bürgermeisterin Scherer zitierte bei der Preisübergabe aus der Begründung der Jury: „Frie beschreibt den rasanten Wandel, die Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft kenntnisreich und wortgewandt, dabei durchaus lakonisch, aber nie larmoyant, melancholisch oder verklärend. Seine Darstellungsweise kombiniert eigenes Erleben mit der Befragung seiner Geschwister als Zeitzeugen und reichert dies mit schriftlichen Quellen an, die das langsame Auseinanderdriften von Dorf- und Stadtbevölkerung dokumentieren. Sein Buch regt die Leser an, über die tiefgreifenden Veränderungen und Verluste nachzudenken und lassen diese zu eigenen Beurteilungen kommen, ohne dass auf Lesegenuss verzichtet werden muss.“
Begleitet vom Applaus der rund 150 Gäste überreichte Scherer dem sichtlich erfreuten Prof. Ewald Frie die Preisträger-Urkunde, in der auch die Begründung der Jury festgehalten ist.

Bürgermeisterin Alexandra Scherer überreicht die Verleihungsurkunde an Prof. Dr. Ewald Frie.
Nach dem Musikstück „Unsere Heimat – der Bodensee“ von Alexander Pfluger, dargeboten von der Stadtkapelle unter der Leitung von Petra Springer, die den Festakt mit dem „Kaiserin Sissi“-Marsch von Timo Dellweg eröffnet hatte, trat Laudator Dr. Johan Schloemann ans Rednerpult.
Die Laudatio

Laudator Dr. Johan Schloemann, aus Bochum stammend, ist Altphilologe, Buchautor und Journalist („Süddeutsche Zeitung“).
Johan Schloemann bekannte in seiner sehr persönlich gehaltenen Laudatio: „Wie viele andere Leser und Leserinnen hat mich das Buch stark angesprochen, sensibilisiert, informiert und fasziniert, es hat mich auf blinde Flecken der eigenen und der kollektiven Erinnerung aufmerksam gemacht. Wer dieses Buch gelesen hat, der behält sie lange im Sinn, diese Bauernfamilie aus dem Münsterland, die nach Jahrhunderten auf der eigenen Scholle mehr oder weniger plötzlich keine Bauernfamilie mehr ist; eine Familie mit ungewöhnlich vielen Geschwistern, die durch einen schleichenden, aber dann doch ziemlich schnellen Wandel der wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch durch eigene Bestrebungen zu Neuem aufbricht und sich doch ihrer Herkunft bewusst bleibt.“
Der Bezug zu Lindströms „Michel aus Lönneberga“
Eine Stelle an Ewald Fries Buch habe ihn „elektrisiert“. Dort ging es darum, dass auf den Bauernhöfen neben der Familie früher oft auch dienendes Personal arbeitete – eine Praxis, die bei den Fries in den Sechzigerjahren endete, erstens, weil die Löhne stiegen, zweitens, weil die vielen Kinder dann mit anpacken mussten, und drittens, weil immer mehr Maschinenkraft vieles von der ganz harten körperlichen Arbeit ersetzte. Ewald Frie schreibt an der Stelle Folgendes: „Ende des 19. Jahrhunderts müssen im Zusammenhang mit Knechten und Mägden ständig Erfahrungen von Differenz gemacht worden sein. Wer wissen will, wie sie aussahen, sollte aufmerksam Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga lesen.“ Lindgrens Buch erschien 1963 in Schweden, also mitten im landwirtschaftlichen und allgemeinen Wandel auch dort.
Das war für Schloemann eine Schlüsselstelle, denn er hat persönlich Beziehungen zum alten, bäuerlichen Schweden. Und er kennt den Wandel auf dem Land aus eigenem Erleben im Ruhrgebiet, das jenseits der Zechen sehr agrarisch strukturiert war. Und weil seine Mutter Schwedin war, bekam er durch deren Eltern den Wandel in der dortigen Landwirtschaft mit.
Der Großvater hatte zwei Schwestern, die unverheiratet blieben und ihr ganzes Leben für die Familie und andere fürsorglich tätig waren. Diese hatten – geboren 1898 und 1900 – noch eine vorindustrielle Kindheit und Jugend verbracht, ihm (Schloemann) sei erst mit zunehmendem Alter klar geworden, wie entbehrungsreich diese für sie gewesen sein muss. Ein örtlicher Bibliothekar und Heimatforscher hatte 1985 ältere Dorfbewohner interviewt und dabei auch seine beiden Großtanten nach ihrer Kindheit befragt. Gottesfurcht und Frömmigkeit dominierten auch im protestantischen Schweden damals den Alltag, so wie es Ewald Frie vom katholischen Bauernhof im Münsterland berichtet.
Anhand dieser Geschichten aus dem Ruhrgebiet und Schweden lasse sich erkennen, warum das nun preisgekrönte Buch so viele Menschen beeindruckt hat und beeindruckt. „Es weckt nämlich, obwohl es auch eine spezifische Geschichte mit lokalen Besonderheiten und Besitzverhältnissen festhält, ganz allgemein eine Reminiszenz: Nicht nur das Bäuerliche als Grundlage unserer Ernährung, sondern überhaupt die agrarische, ländliche Herkunft ist uns allen tief eingeschrieben.“
Die neue Währung
Ewald Frie zeige in seinem persönlichen Beispiel aus dem Münsterland, wie schnell die Gewohnheiten und das ganze Wertesystem einer bäuerlichen Gesellschaft verschwinden konnten, durch neuen Wohlstand, Automatisierung, Modernisierung, wie es „zu dieser „Verkehrung der Verhältnisse“ in der Weltsicht der Eltern Fries kam. „Es gab eine neue Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß.“
Verlusterfahrungen, Befreiungen
Laut Laudator Schloemann komme die Faszination für das Buch von Frie von einem Paradigmenwechsel, der allgemein empfunden werde. „Die technisierte, industriell auf optimalen Ertrag ausgerichtete Landwirtschaft steht biografisch gewissermaßen ganz am Ende von Ewald Fries Erzählung. Heute aber ist sie der Anfang für große ökologische, aber auch wirtschaftliche Sorgen. Massentierhaltung, Bedrohung der Artenvielfalt und klimaverändernde Emissionen machen uns mit Blick auf den Agrarsektor und die Landschaft ein zu Recht schlechtes Gewissen, zugleich müssen diese Probleme gerade auch dort bewältigt werden.“ Mit der alten Bauernwelt sei ja etwas verloren gegangen, gleichzeitig stünden diesen Verlusterfahrungen der Nachkriegszeit in den Erinnerungen der Geschwister Modernisierungs- und Fortschrittgewinne gegenüber und wurden von ihnen als Befreiung empfunden.
Die arme Witwe
In seiner Dankesrede entführte der 1962 in Nottuln im Münsterland geborene Ewald Frie in das Nottuln der Jahre um 1840. 1839 starb der Nottulner Lehrer Heinrich Tegeler und hinterließ eine Witwe mit drei kleinen Kindern, die dadurch „in die traurigsten Umstände versetzt“ wurde, wie der örtliche Bürgermeister an den Landrat schrieb. Ihr müsse geholfen werden. Am Beispiel der armen Witwe schilderte der Historiker Ewald Frie schulische Verhältnisse und Armenfürsorge im damals preußischen Münsterland. Der Staat habe sich mit schmalsten Mitteln um die Verbesserung des Notwendigsten bemüht. „Wir im 21. Jahrhundert rechnen mit dem fürsorglichen Staat und empfinden es als Skandal, dass er nicht immer da ist, wenn wir ihn brauchen“, zog Frie einen Vergleich zur Jetztzeit. „Anders als bei den Menschen in den 1840er-Jahren besteht unser Problem nicht darin, den Staat zu akzeptieren, sondern seine vielen Initiativen, Leistungen und Normen zu überblicken und aufeinander abzustimmen.“

Der 22. Träger des Bad Wurzacher Literatur-Preises: Prof. Dr. Ewald Frie.
“Den Wandel gestalten, das Wichtige behalten”
Prof. Ewald Frie beendete seine Dankesrede mit einem Ratschlag: „Wir können versuchen, den Wandel so zu gestalten, dass das uns Wichtige den Wandel erträgt und verwandelt übersteht. Und dieser Versuch lohnt sich, in Nottuln wie in Bad Wurzach, denn Geschichte wird vor Ort nicht nur erlebt oder umgesetzt, sondern gemacht.“
Zum Abschluss des Festaktes wurde Frie gebeten, sich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Zu Beginn seiner Dankesrede hatte der mit dem Schiedel-Literatur-Preis Gewürdigte die Bedeutung des Preises angesprochen. Damit mache die doch kleine Stadt deutschlandweit auf sich aufmerksam.

Prof. Dr. Ewald Fried trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Bad Wurzach ein. Am Nachmittag las er aus seinem Buch im stark besuchten Kursaal. Am Montag war der Preisträger Gast im Salvatorkolleg.
Der 1962 im Münsterland geborene Preisträger hat an der Universität Münster Geschichte studiert und ist nach verschiedenen wissenschaftlichen Stationen seit 2008 an der Universität Tübingen als Professor für Neuere Geschichte tätig. Zu seinen literarischen Werken neben „Ein Hof und elf Geschwister“, das 2023 mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde, zählen verschiedene Monographien wie beispielsweise „Die Geschichte der Welt“ (Verlag C.H.Beck, 2017), „Friedrich II. (Rowohlt-Verlag, 2012) und „Das Deutsche Kaiserreich“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004). Foto: Uli Gresser

Auch der Co-Vorstand der Schiedel-Stiftung – Bad Wurzachs ehemaliger Bürgermeister Roland Bürkle – ließ sich ein Buch des Laureaten signieren.

Laudator Johan Schloemann mit Jury-Mitglied Jo Lendle (links), dem Vorstand des Hanser-Verlags, und dem seit vielen Jahren amtierenden Jury-Vorsitzenden Dietrich von Buttlar.

Der Laudator im Gespräch mit dem Mitherausgeber der Bildschirmzeitung.
Text und Fotos: Uli Gresser
Weitere Bilder in der Galerie
Unter „Downloads“ haben wir die Laudatio von Dr. Johan Schloemann, die es wert ist, nachgelesen zu werden, sowie die Dankesrede von Prof. Dr. Ewald Frie, in der er einen Exkurs in das Schulwesen im Münsterland des 19. Jahrhunderts macht, hinterlegt.
Weiter finden Sie unter „Downloads“ die Auflistung aller bisherigen Preisträger, beginnend 1983 mit Sebastian Haffner.











