Die zwei Wege
Auf der heutigen Gemarkung der Großen Kreisstadt Leutkirch gab es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zwei dramatische Entscheidungen über Leben und Tod: Am 26. April 1945, zwei Tage vor dem örtlichen Kriegsende, ließ Hauptmann Otto Siebler 15 deutsche Soldaten erschießen, gegen die Todesurteile der Wehrmachtsgerichtsbarkeit vorlagen. Zur gleichen Zeit widersetzte Major Günther Zöller sich der Anweisung, die Muna bei Urlau zu sprengen, indem er die Ausführung so lange hinauszögerte, bis er das Giftgaslager unbeschädigt an die Sieger übergeben konnte.
8. Mai 1945. „Bedingungslose Kapitulation” Nazi-Deutschlands. Ende des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) in Mitteleuropa. Das furchtbarste Massenmorden in der Welt-Geschichte ist vorüber. Über 50 Millionen Tote. Wie konnte so etwas passieren? Oder: Hätten entscheidende Köpfe auch anders handeln können?
Nein – denn „es war ja Befehl”. So die Begründung vieler. Auf dem Gebiet der heutigen Großen Kreisstadt Leutkirch zeigte sich kurz vor und beim Kriegsende 1945: Es gab verschiedene Entscheidungswege. Einerseits für 15 deutsche Soldaten tödlich. Andererseits mit Überleben Tausender in der Nibelstadt und der weiten Umgebung. Weil ein mutiger Kommandant es verhinderte, dass das Muna-Munitionslager im Urlauer Tann gesprengt wurde. Die heutige Fläche Leutkirchs – damals Ort unterschiedlichster Entscheidungen.
Diepoldshofen, 26. April 1945. Gewehrsalven im nahen Wald. Bald danach ist bekannt: Hier wurden 15 deutsche Soldaten erschossen. Von deutschen Kameraden. Nur zwei Tage vor dem Kriegsende in Leutkirch. Warum? Offenbar aufgrund von Todesurteilen der Wehrmachts-Gerichte. Das Vergehen der Erschossenen: Sie hatten sich vermutlich geweigert, weiter beim Krieg mitzumachen. Einem grausamen Gemetzel. Einer militärischen Auseinandersetzung, die damals ganz offensichtlich für Deutschland verloren war.
Nur zwei Tage vor dem Kriegsende in und um Leutkirch. Fünfzehn junge Männer erschossen. Hätte deren Kommandeur, hätte Hauptmann Otto Siebler das verhindern können? Es gab danach rechtliche Verfahren, um das zu prüfen. Doch Otto Siebler wurde nicht verurteilt. Befehl ist Befehl. So begründeten viele Deutsche, die nach dem 8. Mai 1945 wegen ihrer Taten vor dem 8. Mai 1945 angeklagt wurden, ihre Entscheidung.
Hätte Hauptmann Siebler in Diepoldshofen darauf verzichten können, den Erschießungsbefehl auszuführen? Wenn das von ihm so getan worden wäre, hätte wohl auch Siebler die Todesstrafe gedroht. Hatte Siebler also eine Wahl? 80 Jahre nach Kriegsende 1945 lässt sich das nur schwer beantworten. Aber auf dem Gebiet der gleichen Stadt, zu der Diepoldshofen heute gehört, verhielt sich ein anderer deutscher Wehrmachts-Kommandandant ganz anders. Als Major Günther Zöller im Urlauer Tann in den letzten Kriegstagen von der Nazi-Gauleitung (aus Kißlegg) den Befehl erhielt, die Kampfstoffe im Munitionslager Urlauer Tann (Muna) zu sprengen, führte er die Order nicht aus.
Nein – Zöller widersprach den Nazi-Gauleitung nicht offen. Vielmehr erklärte er ihr, dass technisch noch einiges vorzubereiten sei, bevor die Giftstoffe explodieren sollten. Zöller spielte also auf Zeit. Vermutlich stets bewusst darüber, dass ihm fanatische Nazis dann doch noch einen Strick daraus drehen hätten können. Im wahrsten Sinn des Wortes. Umso mehr, als dass Zöller über Dritte die anrückenden französischen Soldaten wissen ließ, es sei sinnvoll, wenn sie rasch dem Nazi-Spuk ein Ende bereiten würden. Besonders im Munitionslager Urlauer Tann.
Tödliches Risiko. Doch Zöllers Plan ging auf. Die Muna-Munition wurde nicht gesprengt. Dies bewahrte vermutlich Tausende in der Umgebung vor dem Tod.
Leutkirch – eine Große Kreisstadt mit zwei Gedenkorten. In Zeiten höchster Gefahr, Kriegsende 1945, zwei unterschiedliche Entscheidungen. Die eine folgte schlicht Befehlen – und brachte 15 junge Männer den Tod. Die andere folgte wohl dem Gewissen – und rettete damit große Teile des Allgäus. Der eine entschied sich für den Tod, der andere für das Leben. Friedfertigkeit durch eigene Entscheidung.
Friedfertigkeit – eine Herausforderung damals wie heute. Gerade in heutiger Zeit, in der manch verantwortlicher Politiker Deutschland wieder „kriegstüchtig” machen möchte.
Da mag die Entscheidung des Urlauer Majors Günther Zöller den Weg weisen. Ein Weg zur Friedfertigkeit, der immer wieder beschritten werden kann. Und muss. Zumindest für die, die nicht wollen, das andere getötet werden. Schon gar nicht massenhaft. Entscheidungen, wie sie Zöller fällte, sind lebensrettend.
So entschied am 26. September 1983 der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow, einer Meldung auf den Abwehr-Beobachtungs-Bildschirmen der russischen Armee nicht so zu folgen wie vorgeschrieben: mit dem Alarm für sowjetische Atomraketen, gegen Westen zu fliegen. Kurz danach stellte sich heraus: Die Bildschirm-Beobachtungen waren falsch – westliche Atomraketen hatten die Sowjetunion nicht angegriffen. Hätte Petrov russische Atomsprengköpfe Richtung Westeuropa geschickt, würde Deutschland heute vermutlich einer Mondlandschaft ähneln.
Entscheiden in gefährlichen Augenblicken. Riskant – und schon allein daher mutig. Und doch lebensrettend für Tausende, ja Millionen. Der Urlauer Tann zeigte vor und während des Kriegsendes 1945: Solche Entscheidungen sind möglich. Leutkirch – e i n e Gemeinde, z w e i Wege. Die Friedensfahne am Rathaus mahnt. Und weist in die richtigen Richtung.
Julian Aicher
Transparenz-Hinweis: Bildschirmzeitungsreporter Julian Aicher leistete 1978 bis 1980 seinen Zivildienst in einem Krankenhaus ab. Ähnlich wie sein Großvater, der Sanitätsverpflichtete Robert Scholl im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918). Julian Aichers Vater Otl Aicher entfernte sich 1940 – 1945 als Soldat mehrmals von der Truppe. Er bekannte sich danach als Deserteur der Wehrmacht. Julian Aichers Mutter Inge Aicher-Scholl protestierte in den 1960er-Jahren bei „Ostermärschen” gegen Aufrüstung, beteiligte sich Mitte der 1970er-Jahre an der “Arbeitsgruppe Friedenswoche Leutkirch” und setzte sich am 24. September 1985 auf die Straße vor das US-Atomwaffendepot Schwäbisch Gmünd.