Das Thema Prostitution ist im Kino kein Tabu mehr, und Regisseur Sean Baker scheint sich dem Thema wie kein anderer Filmemacher mit Passion zu widmen. In „Anora“, einem der besten Filme des Jahres, folgt er Hauptdarstellerin Mikey Madison auf ihrer Odysee durchs Nachtleben und verlangt ihr dabei eine Oscar-reife Performance ab. Am 31. Oktober startet der FIlm in den deutschen Kinos.
Diie 23-jährige Ani (Mikey Madison) geht mit großer Empathie und Abgeklärtheit auf Kundenfang für die in den VIP-Logen angebotenen Lapdance. Einer ihrer Freier-Kunden ist der zwei Jahre jüngere Russe Vanya (Mark Eydelshteyn), der Ani anschließend auch noch für einen Privattermin bei sich zu Hause buchen will. Und dort erlebt Ani eine handfeste Überraschung: Dass der Junge Geld hat, war ja klar, aber diese Luxusvilla ist wirklich wie von einem anderen Stern.
Vanya bestellt Ani immer wieder für Sex zu sich – und schließlich will er, dass sie sich eine ganze Woche lang als seine Freundin ausgibt: Sie handelt ihn von 10.000 auf 15.000 Dollar hoch, aber wahrscheinlich hätte er auch 30.000 gezahlt. Bei einem letzten gemeinsamen Trip nach Las Vegas, bevor Vanya zu seinen Oligarchen-Eltern nach Russland zurückmuss, heiraten die beiden spontan – und setzen damit die halbe russische Gemeinde New Yorks in helle Aufregung. Denn als Vanyas Eltern davon Wind bekommen, machen sie sich sofort auf den Weg in die Staaten – und schicken auch schon mal ihre örtlichen Handlanger vor, um alles für die schnellstmögliche Annullierung der Ehe vorzubereiten…
Der Filmemacher Sean Baker gehört aktuell zu den aufregendsten Talenten des amerikanischen Kinos. Nach den beiden von Kritikern gefeierten Dramen „Florida Project“ und „Red Rocket“ liefert er mit seinem jüngsten Werk jene brillante Charakterstudie ab, die mit den wohl größten Chancen auf die Statue für den besten Film ins Oscar-Rennen 2025 geht.
Shootingstar Mikey Madison legt in der Hauptrolle eine unglaubliche Energie an den Tag – ihre Performance ist absolut mitreißend, und das liegt längst nicht nur an ihren verbalen Attacken. Sobald die drei Oligarchen-Schergen vor der Tür stehen, langt sie auch physisch ordentlich zu – selbst wenn ihr das am Ende wenig hilft: Vanya ist weg und Ani muss dem mit der Situation völlig überforderten Handlanger-Trio dabei helfen, ihren verschwundenen Vermählten wiederzufinden. Ein Adrenalin-getränkter Trip durch das nächtliche New York, oft unfassbar komisch, aber mit einem untrüglichen Gespür für die besuchten Orte sowie einer ähnlichen fiebrigen Elektrizität, mit der zuletzt Adam Sandler im Safdie-Brüder-Meisterwerk „Der schwarze Diamant“ durch den Diamond District hastete.
Virtuos in Szene gesetzt und von Kameramann Drew Daniels in berauschenden Bildern eingefangen, überzeugt „Anora“ als vielschichte Studie über die heutige USA von der ersten Minute an. Neben Madison liefern auch Mark Eydelshteyn und Yuriy Borisov facenttenreiche Performances ab.
Der 51jährige Sean Baker erzählt wieder einmal eine bewegende Geschichte voller Lebenslust und pointiertem Humor. Bei den 77. Filmfestspielen in Cannes gab es dafür die Goldene Palme, und weitere Preise werden Anfang nächsten Jahres zweifellos folgen.
Autor: Christian Oita