Berchtesgaden – Reisen bildet. Ganz besonders, wenn man seine Wanderungen und Radtouren rund um Berchtesgaden mit einem Besuch des NS-Dokumentationszentrums Obersalzberg und dem nahe gelegenen Kehlsteinhaus verbindet.
Es gibt kaum ein bayrisches Motiv, Schloss Neuschwanstein im Ostallgäu einmal ausgenommen, das magischer auf Touristen aus aller Welt wirkt als die roten Türme von St. Bartholomä im Königsee. Und das Verblüffende daran: Man kann sich auch selbst dem Reiz des Ortes nicht entziehen. Und zwar egal, ob man nun gerade nach einer mehrtägigen Hüttentour im Nieselregen gut 1200 Höhenmeter die so genannte Saugasse vom Kärlingerhaus heruntergestiegen ist oder ganz gemütlich eine halbe Stunde im Elektro-Boot über den (wirklich!) smaragdgrünen bayerischen Gebirgssee geschippert ist. Man könnte nun eine zweistündige Wanderung zur so genannten Eiskapelle machen, einem permanenten Eisfeld am Fuß der Watzmann-Ostwand. Oder bis zur Rückfahrt gemütlich im Biergarten sitzen und ein Weißbier trinken.
Nach so viel geballter Natur steht tags darauf ein Besuch im NS-Dokumentationszentrum Obersalzberg an. Auf einer kehrenreichen Straße gut im Auto, für Sportliche oder E-Biker auch mit dem Rad zu erreichen.
Zwischen 1933 und 1945 war der Obersalzberg ein nationalsozialistisches Machtzentrum: Über ein Viertel seiner Amtszeit verbrachte Adolf Hitler hier. In seinem Berghof entschied der Diktator in einem Kreis enger Vertrauter über Verfolgung, Krieg und Völkermord. Zugleich war der Obersalzberg die Kulisse für Hitlers Inszenierung als angeblich sympathischer „Volkskanzler”. Die Dauerausstellung der Dokumentation Obersalzberg informiert über die Geschichte dieses historischen Ortes.
Im September letzten Jahres öffnete die deutlich erweiterte Dokumentation Obersalzberg ihre Pforten. In dem größeren Neubau ist seitdem die neue Dauerausstellung „Idyll und Verbrechen“ zu sehen. Auch in den Wintermonaten, Nebensaison im Berchtesgadener Land, blieb das Interesse überdurchschnittlich hoch. Schon im Juni wurde die Marke von 100.000 Besucherinnen und Besuchern erreicht. Im Mittelpunkt der Dauerausstellung steht der historische Ort Obersalzberg, den Adolf Hitler zu seiner Wahlheimat machte. In fünf Kapiteln und anhand von rund 350 Objekten, Dokumenten, Fotografien und multimedialen Elementen setzt sie
sich mit dem scheinbaren Gegensatz zwischen idyllischer Berglandschaft einerseits und den Schrecken der NS-Herrschaft andererseits auseinander und thematisiert das Schicksal der Opfer. Hier entstanden auch die bekannten Fotos mit seinem Deutschen Schäferhund Blondi. Die Propaganda setzte Blondi ganz gezielt ein, um die menschliche und emotionale Seite des Führers zu präsentieren. Der Führer mit seinem vierbeinigen Freund war sogar ein beliebtes Postkartenmotiv.
Die Dauerausstellung beginnt mit „Bühne Obersalzberg“. In wenigen Jahren wurde der oberhalb von Berchtesgaden gelegene Obersalzberg vom Bergbauerndorf zum abgeriegelten Führersperrgebiet umgebaut. Die Einheimischen mussten weichen. Mittendrin: Hitlers Berghof, in dem er seinen Hofstaat versammelte in einer eigentümlichen Atmosphäre aus privatem Wohnsitz und Regierungssitz.
Kapitel zwei thematisiert: „Führer, Volk und Sperrgebiet“. Die „Volksgenossen“ strömten in regelrechten Wallfahrten zu ihrem Führer an den Obersalzberg und wurden anfangs auch oft durchgelassen, konnten fotografieren und bekamen Autogramme. Beim Betrachten der Fotos von begeisterten Besuchern erinnere ich mich an die Erzählungen meiner Schwiegermutter, wie sie achtzehnjährig mit zwei Freundinnen von Biberach nach Berchtesgaden radelte (ohne Gangschaltung), um den Führer zu besuchen. Zum großen Bedauern der Bund-Deutscher-Mädel-Touristinnen war er an jenem Tag leider nicht auf dem Berghof anzutreffen. Welch’ eine Enttäuschung!
Machtzentrale Berghof
In Kapitel drei: „Bergwelt und Weltmacht“ wird der Obersalzberg beschrieben als ein Ort der Außenpolitik und des Krieges: Hier trieb Hitler seine Expansionspolitik voran. Hier empfing er Staatsgäste und Verbündete. Er bereitete seine Kriege vor: den Überfall auf Polen ebenso wie den Feldzug gegen die Sowjetunion. Am Kartentisch des Berghofes führte Hitler Krieg.
Kapitel vier thematisiert „Täterort und Tatorte“. Demnach gibt es keinen Komplex der nationalsozialistischen Massenverbrechen, der nicht mit dem Obersalzberg verknüpft ist. In diesem Kapitel im Zentrum der Ausstellung richtet sich der Blick auf Tatorte und auf die Schicksale der Opfer: Überall in Europa starben und litten Millionen Menschen wegen der mörderischen Entscheidungen, die am Obersalzberg getroffen wurden.
Schließlich Kapitel fünf: „Nach Hitler“. 1945 endete der Krieg natürlich auch am Obersalzberg. Hitler hatte den Ort schon fast ein Jahr zuvor verlassen. Amerikaner und Franzosen nahmen das Führersperrgebiet kampflos ein. Am 25. April 1945 bombardierte die britische Royal Air Force das Gelände und zerstörte einen Großteil der Gebäude. Die US-Armee nutzte das Areal bis 1996 als Recreation Area und schickte Soldaten aus ganz Europa zur Erholung her. Ähnlich wie aufs Schneefernerhaus an der Zugspitze.
Nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte beschloss die Bayerische Staatsregierung in Abstimmung mit dem Landkreis und der Marktgemeinde Berchtesgaden das „Zwei-Säulen-Konzept“: Wiederbelebung und Förderung des Tourismus am Obersalzberg sollte Hand in Hand gehen mit der historischen Aufarbeitung der NS-Geschichte. 1999 wurde die Dokumentation Obersalzberg als Ort der Information, des Lernens und der Erinnerung eröffnet, 2023 erweitert. Das Dokumentationszentrum hat täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet, der Eintritt kostet drei Euro.
Aussichtsreiches Adlernest
In Sichtweite des auf tausend Metern liegenden Obersalzbergs erhebt sich auf 1834 Metern das Kehlsteinhaus, Hitlers Eagles’s Nest. Es ist in einer mehrstündigen Wanderung oder mit dem Shuttlebus zu erreichen. Gebaut Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts thront das Gebäude über einer schroffen Steilwand. Auch eine Straße in völlig unwegsamem Gelände hatte man dem Berg abgerungen. Angekommen auf dem asphaltierten Buswendeplatz vor einem steinernen drei Meter hohen Tunnel, eingefasst von einem imposanten Tor aus Granit, erreicht man zu Fuß – man reibt sich wirklich die Augen – einen messingglänzenden Aufzug inmitten des Berges, durch den man zum „Gipfel der Macht” in 41 Sekunden gleichsam emporgehoben wird. Er ist im Original erhalten: Polierte Messingplatten und venezianische Spiegel bilden die Wandverkleidung, gepolsterte, mit grünem Leder bespannte Sitze lassen sich ausklappen. Man könnte die 124 Höhenmeter auch zu Fuß im Freien einen schmalen Pfad hinaufsteigen
Das Kehlsteinhaus war ein Projekt Martin Bormanns, eines wichtigen Vertrauten Hitlers. Entgegen weit verbreiteter Annahmen war das Kehlsteinhaus aber kein Geschenk zu Hitlers 50. Geburtstag im Jahr 1939. Hitler besuchte das Kehlsteinhaus übrigens äußerst selten. Die Bomben der Alliierten im Zweiten Weltkrieg trafen das Kehlsteinhaus nicht und auch nach dem Krieg wurde es nicht gesprengt. Das Kehlsteinhaus ist daher noch weitgehend in seiner ursprünglichen Form erhalten und wird seit 1952 als Berggasthaus geführt. Von 1952 bis 1962 wurde es vom Freistaat Bayern an den Deutschen Alpenverein Sektion Berchtesgaden verpachtet. Die neue Ausstellung auf der Sonnenterrasse zeigt die Geschichte des Kehlsteinhauses auf 14 Infotafeln. Historische Fotografien und begleitende Texte erzählen die Geschichte des Berges vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse. Vom Wandel des Obersalzbergs zum „Führersperrgebiet“ über den Bau der Kehlsteinstraße und des Kehlsteinhauses in den Jahren 1937/38 bis zur touristische Nutzung von 1945 bis heute.
Man hat einen großartigen Panoramablick von der Terrasse des Kehlsteinhauses. Ein gut einstündiger unschwieriger Rundweg führt vorbei am Gipfelkreuz in eine wilde Felslandschaft mit herrlicher Aussicht. Der Weg über den Mannlgrat auf den Hohen Göll hingegen ist ein Klettersteig der Kategorie B und nur mit kompletter Klettersteigausrüstung zu begehen! Die Fahrt vom Obersalzberg zum Kehlsteinhaus kostet hin und zurück satte 31,90 €. In der Hochsaison empfiehlt sich eine online-Ticketbuchung um Wartezeiten zu vermeiden.
Autorin: Andrea Reck