Obgleich glücklicherweise noch kein Krieg des 21. Jahrhunderts an das Unheil der Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts heranreicht, wird wohl niemand behaupten, wir würden in friedlichen Zeiten leben. Der Krieg in der Ukraine und der Nahost-Konflikt forderten allein im Jahr 2024 über 300.000 Tode, ganz abgesehen von den anderen bewaffneten Auseinandersetzungen in der Welt. Und doch haben solche Zahlen etwas Ungreifbares. Kriege werden für Menschen erst verständlicher, wenn man von den persönlichen Geschichten und Gefühlen der Betroffenen erfährt. Zahlen wie „fünf Millionen verstorbene deutsche Männer im Zweiten Weltkrieg“ bekommen erst durch individuelle Schicksale eine Bedeutung. Eine Annäherung: 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Glücklichen (Jg. 2005), der in Frieden lebt.
Das Buch von Philipp Mattes „Bis ans bittere Ende – Feldpostbriefe nach Oberschwaben“ entstand, nachdem er im Jahr 2012 eine Kiste mit rund 300 Feldpostbriefen der Gebrüder Alois und Albert Widmann in einem Bad Schussenrieder Keller fand. Dieser historische Schatz war ein Zufallsfund im Keller der Wohnung, die Mattes’ Vater einst erworben hatte. Mattes erkannte sofort die Bedeutung der Briefe und sah es als seine persönliche Verpflichtung, sie zu veröffentlichen – „gegen das Vergessen“, wie er schreibt. Statt WhatsApp-Nachrichten waren es „Feldpostbriefe“, in denen die Soldaten über ihr Leben und Überleben im Krieg berichteten. Die „Deutsche Feldpost“ war dabei ein Teil der zivilen Post, eingegliedert in die militärische Organisation der Armee und unterlag einer besonderen Zensur: Anfangs hauptsächlich zur Abwehr von Spionage, mit der Zeit verschob sich dies aber in Richtung eines propagandistischen Mittels, um strikt gegen „Wehrkraftzersetzung“ vorzugehen.
Die Brüder Alois (Jg. 1916) und Albert Widmann (Jg. 1918), beide zu Kriegsbeginn Anfang Zwanzig, erlebten offensichtlich eine friedliche und typisch oberschwäbische Kindheit in der kleinen Siedlung Torfwerk zwischen Buchau und Schussenried. Zusammen mit ihrer Schwester Maria und Freunden spielten sie viel in der Natur und verstanden sich gut. Doch wie so viele Millionen junger Männer wurden die beiden zum Kriegsdienst eingezogen und beide von Frankreich nach Russland versetzt. Von dort stammen fast sämtliche Feldpostbriefe, über die im Folgenden berichtet wird.

In den frühen Briefen aus dem Jahr 1941 des jüngeren Bruders Albert, der als Infanterist bei der Luftwaffe eingesetzt war, trat die NS-typische propagandistische Sprache deutlich hervor. Er kämpfe für Deutschlands Freiheit und sprach euphorisch und optimistisch davon, zum Jahresende wieder zuhause zu sein. Von jeglichen Sorgen angesichts der Versorgung oder des Überlebens war noch keine Spur. Besonders zeigte sich am Anfang sein Vertrauen in die führende Hand Gottes bei allem, was kommen würde. Die einzige Trübung des Wohlbefindens gründete scheinbar zu Beginn im Mangel an Zigaretten, die er sich häufig zusammen mit Lebensmitteln und entwickelten Fotos von daheim schicken ließ.
Die Briefe spiegeln Alberts starke Bindung zur Familie wider, was er durch Dankbarkeit für die Sendungen und Briefe sowie durch Nachfragen nach der Situation in der Heimat zeigte. In einem späteren Brief äußerte er erstmals Unsicherheit über die Zukunft und bat seine Schwester, den Brief zu verbrennen, um den Eltern keine Sorgen zu machen. Spätestens hier kann man zweifeln, wie viel vom Schrecken des Krieges Albert erzählte. Sein Optimismus wandelte sich angesichts des viel länger als erwartet andauernden Kriegs allmählich zu Resignation, und er sehnte sich nach der Heimat. Vermehrt berichtete er vom Elend des Krieges und seinen verschlechterten Bedingungen: ständige Bedrohung durch nächtliche Fliegerangriffe, immer wieder schlechte Versorgungslage und eine schwerwiegende Erkrankung in den Beinen gehören in diese lange Liste.
Albert berichtete weiterhin von seiner abnehmenden Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Er zeigte sich besorgt um die Zukunft und um seinen Bruder Alois. Dennoch blieb er in seinen Briefen zuversichtlich und versuchte, die Bedingungen positiv zu schildern. Der Familie in der Heimat Mut zuzusprechen und keine Sorgen zu machen, gehörte nämlich zu den wichtigsten Regeln der Nazi-Propaganda – eine Missachtung konnte schwere Folgen haben. Zunehmend wurde auch Alberts schlechter werdender psychischer Zustand sichtbar, der durch den Krieg und die Erlebnisse belastet war. Die vielen Briefe lassen vermuten, dass das Schreiben ihm beim Verarbeiten half, also eine psychotherapeutische Funktion einnahm.

Seine Briefe zeigen eine Vielzahl an Emotionen, von Freude über das Wiedersehen mit Alois bis hin zu Traurigkeit über die grausame Realität des Krieges. Mitleid oder Hemmungen angesichts des Kämpfens und Tötens ist seinen Briefen jedoch nicht zu entnehmen – lediglich Beschönigungen wie „Handgemenge” für einen bewaffneten Kampf, in dem es sicherlich Tote gab. Der Krieg war für ihn zur Normalität geworden. Aber an einzelnen Stelle ist auch Menschlichkeit im Krieg zu sehen, beispielsweise anhand eines Fotos, das Albert von einem russischen Bauernmädchen mit Hühnern aufnahm. Das Foto sticht durch seine Friedlichkeit heraus, wirkt vor dem Hintergrund des Heimwehs Alberts nach der oberschwäbischen Heimat aber auch rührend, gar tragisch.
Spätestens im Jahr 1944 waren Alberts Briefe oft von einer tiefen Besorgnis geprägt. Sein wiederholter Wunsch nach Urlaub und Berichte über die negative Entwicklung an der Front drückten seine Zerrissenheit zwischen Hoffnung und Verzweiflung aus. Der letzte Brief von Albert im Januar 1945 enthält die Worte: er müsse sich kurz fassen, da er nur wenig Zeit habe. Kurz darauf verschwand er. Bis zum heutigen Tag gilt Albert südlich von Opole in Oberschlesien als vermisst. Was sich wohl nicht mehr ändern wird.
Alois, Alberts älterer Bruder, war Kraftfahrer bei der württembergischen 78. Infanterie und Sturmdivision des Heeres. Noch in Polen ahnten er und seine Kameraden angeblich, dass ein Krieg gegen Russland bevorstand, und waren vom Überfall dennoch überrascht. Wie Albert rechtfertigte er den Angriff auf Russland als Verteidigung, da Deutschland sonst von der sowjetischen Armee überrollt worden wäre.
Nachts fand er aufgrund von Bombenabwürfen oft keine Ruhe, musste die Versorgungsfahrten aber trotzdem nachts durchführen, weil es noch immer sicherer als tagsüber war. Deutsche Soldaten gingen radikal gegen sogenannte russische Heckenschützen vor, was Alois klar machte: Es wurden keine Gefangenen gemacht. Wie Albert sorgte er sich stets um seine Familie und schickte oft humorvolle Nachrichten. Er beklagte sich aber auch über die Kälte, schlammige und kaum befahrbare Straßen während Tauperioden und andere Probleme wie Läuse, die er scherzhaft als „Wehrmachtstierchen“ bezeichnete. Zudem berichtete er eindrücklich von schlechten Essens- und Hygienebedingungen und nutzte Zigaretten, um den Geruch von Verwesung zu überdecken.

Er schrieb genau wie sein Bruder, dass die Familie sich keine Sorgen machen müsse, und war 1941 überzeugt von einer baldigen Einnahme Moskaus und dem Kriegsende. Auch wenn er die NS-Vorgaben meist einhielt, berichtete er wiederholt, dass er dem Tod nur knapp entkommen sei, was sicher nicht beruhigend war für die Familie. Über die Ehrung mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern, das er im Februar 1943 erhielt, wirkte Alois nicht wirklich begeistert. Das lässt sowohl auf psychisches Erschöpftsein als auch auf Zweifel schließen.
In der Folgezeit ging es ihm vergleichsweise gut: In größeren Städten wie Smolensk gab es häufig ein ruhigeres Leben als direkt an der Front. Dafür traf ihn jedoch auch eine Urlaubssperre seitens der Heeresleitung, die er offen als „Schweinerei“ bezeichnete. Aber auch wenn er und seine Kameraden „die Nase ja auch anständig“ voll hätten, habe er noch immer große Hoffnung auf ein gutes Ende. Diese Geduld solle auch seine Familie haben.
Sein Bericht über das verheerende Unternehmen „Zitadelle“ um die Stadt Kursk ist erstaunlich drastisch, angesichts der Faktenlage aber dennoch verharmlosend. Binnen elf Tage starben auf sowjetischer Seite fast 200.000 Soldaten und auf deutscher Seite gut 50.000 Soldaten. Alois’ innigster Wunsch: Raus aus Russland. Seine Verzweiflung war groß: „Der [Krieg] wird doch nicht nochmal so lange dauern, das kann nicht sein.“ Aber nach wie vor geht er davon aus, dass der Krieg gut endet. Spannend ist, wie Alois die Familie fragte, was sie vom Krieg hielte. Er selbst erwartete eine russische Offensive, die sich mit der Operation Bagration tatsächlich bewahrheitete. Diese brutalen Kämpfe von Juni bis August 1944 forderten rund 27.000 Tote auf deutscher und rund 178.000 Tote und Vermisste auf sowjetischer Seite.
Auch Alois war als Nachschubfahrer Teilnehmer der Schlacht. So rettete er Verwundete aus der „Hölle“, die alles bisherige in den Schatten gestellt habe. Der Ring durch die Rote Armee sei schon eng zugezogen gewesen, ständiges Feindesfeuer habe ihn während des Rückzugs begleitet. Wie durch ein Wunder sei er unverletzt geblieben, obwohl er bereits mit dem Tod oder der Gefangenschaft gerechnet hatte. Acht Tage habe er ohne Verpflegung und Schlaf leben müssen. Aus jedem Sumpfloch habe er getrunken. Entsprechend traumatisiert wirkt er danach. Er wisse nicht, wie es weitergehen solle.
Seine Hoffnung auf einen Abzug aus Russland und eine heimatnahe Versetzung bewahrheitete sich: Nach der Vernichtung der Division wurden die Reste der Einheit zurück in die Heimat geführt und dort wieder neu aufgestellt. Darunter auch Alois. Seine letzten beiden Stationen waren Belgien und danach Densborn in der Eifel. Von dort desertierte Alois im April 1945 und schlug sich nach Süden durch. Als er schließlich ins Torfwerk zurückkehrte, wollte der Vater ihn aus Angst vor Konsequenzen zunächst nicht aufnehmen. Es ist davon auszugehen, dass Alois sich deshalb in den letzten Kriegstagen im Wald und im Ried versteckt hielt.
Wie lassen sich diese wertvollen Zeitzeugenberichte zusammenfassen und interpretieren? Zunächst einmal waren Albert und Alois Widmann gewöhnliche junge, ländliche Männer ohne großes politisches Interesse: Weder überzeugte Nationalsozialisten noch mutige Widerstandskämpfer. Das gäbe den Briefen grundsätzlich etwas Objektives und Authentisches, meint der Herausgeber Philipp Mattes. Dem lässt sich nur bedingt zustimmen, denn beide dienten auch der Propaganda. Alois schreibt einmal, dass er sicher sei, der Führer wisse, was er tue. Es ging auch darum, dem Krieg und ihrem persönlichen Handeln einen Sinn zu geben. Nachdem sie zunächst aus Überzeugung glaubten, glaubten sie später nur noch aus der Not heraus an den Sinn des eigenen Tuns. Und an das Überleben. Bis zum bitteren Ende.
Insgesamt waren die Briefe systemstabilisierend und gehorchten meist den NS-Vorgaben: den Krieg zu beschönigen sowie die Familie zu beruhigen. Dennoch überschritten einige Briefe gerade in den späteren Kriegsjahren diese Grenze, nicht aus offener Rebellion heraus, sondern weil die Brüder offenbar ehrlich sein wollten – für ihre eigene Psyche und für ihre Familie.
Alois starb am 29. Dezember 2005 im Alter von 89 Jahren, ein persönliches Fazit zum Krieg ist nicht bekannt. Nach dem Krieg arbeitete er noch lange als Chauffeur der Landräte in Bad Saulgau und später in Biberach, heiratete Liselotte Widmann und hatte drei Kinder. Der Krieg war ihm, betrachtet man Fotografien, so scheint es, zeitlebens anzusehen und begleitete ihn sicherlich psychisch bis ans Lebensende.

300 Seiten, mit vielen Fotos, Preis: 29,80€
Sollten Sie Interesse an der Geschichte und den Feldpostbriefen der Gebrüder Widmann haben, dürfen Sie sich gerne beim Autor Philipp Mattes melden: Per Mail: ph.mattes@gmx.de oder Tel: 0173/9639793.
Autor: Benjamin Fuchs

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