Bad Schussenried – Der Name verrät, dass es wohl schon lange her sein muss, dass in Schussenried die „Königliche Heil- und Pflegeanstalt Schussenried“ gegründet wurde. Es war zu Bismarcks Zeiten und im Königreich Württemberg führte König Karl das Zepter, als am 9. März 1875 im „Neuen Kloster“, dem ehemaligen Konventbau, die ersten psychisch Kranken stationär behandelt wurden. Vor 150 Jahren also begann die Geschichte der Psychiatrie in dem Ort, der zuvor vom 1183 gegründeten Kloster des Prämonstratenserordens beherrscht worden war. Der Barockbau gehörte zur 1803 säkularisierten Reichsabtei Schussenried, auf deren Gelände zunächst ein Hüttenwerk eingerichtet wurde, bevor ab 1875 die Psychiatrie einzog. Heute firmiert die Institution unter Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg (ZfP) und ist aus Bad Schussenried nicht mehr wegzudenken. Ein Rückblick.
Immerhin hatte man den Namen der Einrichtung in Schussenried bereits entschärft, in Zwiefalten wurde nämlich 1812 die erste „Königlich-Württembergische Staatsirrenanstalt“ eingerichtet. Zwar hätten „Zwangsmittel, Zwangsjacken, Drehstühle und Ähnliches“ keine Anwendung mehr gefunden, doch seien „Isolierzellen, um hochgradig erregte Kranke von ihrer Umgebung abzusondern“, die Verabreichung „kalter Duschen“ und Beruhigungsmittel an der Tagesordnung gewesen, stellt der promovierte Historiker Bernd Reichelt mit Blick auf die Anfänge fest. Der Wissenschaftler arbeitet am von Prof. Thomas Müller geleiteten Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin der Uni Ulm am ZfP-Standort Zwiefalten und hielt gemeinsam mit diesem den Festvortrag zum Jubiläum.
Reichelt und Müller: „Die Geschichte der Heilanstalt Schussenried weist einige Besonderheiten auf. Wie auch bereits in den Romanen des Heimatschriftstellers Wilhelm Schussen nachzulesen war, scheint in Schussenried eine besonders enge Verbindung zwischen der Anstalt und dem Ort bestanden zu haben. Also zwischen Personal und Patientinnen und Patienten einerseits, und den Bewohnerinnen und Bewohnern andererseits. Hierzu trugen eine ganze Reihe von Umständen bei: Wie andere Anstalten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wies auch Schussenried sogenannte ‚agrikole Kolonien‘ auf. Dies war ein Modell, bei dem die Arbeit auf angepachteten oder eigens hierfür erworbenen Landwirtschaften arbeitstherapeutisch in die Behandlung der Kranken einbezogen wurde.“

Die Arbeitstherapie war eine Therapieform, die während des Nationalsozialismus zwar fortgesetzt wurde, doch mit „Ausbeutung“ einherging, urteilen die Historiker. „Inhaltlich hatten sich die Zielsetzungen in der Psychiatrie seit 1933 radikal verschoben.“ 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Damit begannen die Zwangssterilisierungen an psychisch kranken Menschen. Bis 1939 betraf die Zwangssterilisierung allein in der Schussenrieder Psychiatrie insgesamt etwa 150 Menschen. Im zweiten Kriegsjahr 1940 begann mit der „Aktion T4“ der systematische Massenmord an psychisch kranken Menschen. In der Tötungsanstalt Grafeneck, der ersten ihrer Art im Reich, wurden 10.654 Menschen mit Gas ermordet. Von der Heilanstalt Schussenried aus wurden zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 1940 insgesamt 619 Menschen in neun Transporten nach Grafeneck deportiert. Im März 1941 kam es zu einem letzten Transport im Rahmen der „Aktion T4“, mit 19 Schussenrieder Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar.
Als ein Glücksfall ist dabei der heute prominente Künstler Gustav Mesmer zu nennen. Der „Ikarus vom Lautertal“ war von 1929 bis 1949 Patient in der Heilanstalt Schussenried und damit hauptsächlich in der Zeit des Nationalsozialismus. Später war Mesmer Patient in der Weissenau, bevor er seinen Lebensabend in einem Altenheim in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb verbrachte. „In seiner Zeit in Schussenried wurde Mesmer arbeitstherapeutisch in der Korbflechterei eingesetzt. Diese Fähigkeit hat ihm während der sogenannten ‚Euthanasie‘ wahrscheinlich das Leben gerettet“, resümieren Müller und Reichelt.
Wie stand es um das therapeutische Angebot in der Nachkriegszeit? Zunächst hatte weiterhin die Arbeitstherapie dominiert. Ab den fünfziger Jahren wurden die Psychopharmaka eingeführt und boten neue Möglichkeiten. In diesem Kontext rückte der kranke Mensch im Therapiekonzept als handelndes Subjekt in den Vordergrund. In dieser Zeit wurden die Heilanstalten umbenannt. Sie waren nun Psychiatrische Landeskrankenhäuser – PLK.

Um 1970 wurde der Sozialdienst wichtigster Akteur bei sozialpsychiatrischen Aktivitäten in und außerhalb der Klinik. Er unterstützte die sogenannte Laienhelferarbeit, die ebenso Anfang der siebziger Jahre ihren Anfang nahm und sich in den folgenden Jahren etablierte. 1980 wurde die Laienhilfe in Bad Schussenried institutionalisiert, als der „Freundeskreis Bad Schussenried“ gegründet wurde. Der gemeindepsychiatrische Verein ist im Landkreis heute weiterhin aktiv, seit 2019 unter dem Namen „Bela e.V.“. Er arbeitet eng mit dem ZfP Südwürttemberg zusammen.
Auch der Pflegedienst hatte sich bis in die siebziger Jahre massiv gewandelt. Im Oktober 1961 startete am PLK Schussenried der erste Ausbildungskurs mit dem Ziel der staatlichen Prüfung. Damit verbunden war auch die offizielle Anerkennung als Krankenpflegeschule. Die Ausbildung sorgte in den Reihen des Pflegedienstes für eine zunehmende Professionalisierung. In den 1990er Jahren zog die Klinik endgültig aus dem ehemaligen Klostergebäude aus.
Im Rahmen des Festaktes zum 150. Jubiläum verwies Geschäftsführer Dr. Dieter Grupp auf die Psychiatrie-Enquete von 1975 als entscheidender Wendepunkt, heißt es in der Pressemitteilung. „Heute haben wir eine dezentralisierte Versorgung mit gut ausgebauten ambulanten Angeboten“, so Grupp. „Die Versorgung psychisch Erkrankter war noch nie so gut.“ Dennoch bleibe die Frage: „Sind wir wirklich angekommen?“
Diese Frage sei von Dringlichkeit angesichts der seit Jahren steigenden Zuweisungen in den Maßregelvollzug, erklärte der Geschäftsführer. Der hohe Belegungsdruck in der forensischen Psychiatrie erschwere eine personenzentrierte Behandlung erheblich. „Wie vor 150 Jahren bleiben diese Menschen über viele Jahre in der Einrichtung. Wie vor 150 Jahren werden die Mauern, die sie umgeben, höher und undurchlässiger. Wie vor 150 Jahren werden diese Menschen weggesperrt und verwahrt“, mahnte Grupp. Er forderte eine „neue Psychiatriereform Forensik“, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Auch im Maßregelvollzug brauche es aufsuchende Behandlungsangebote in Justizvollzugsanstalten sowie eine dezentralisierte Versorgung. „Nur so können wir am Standort Bad Schussenried weiterhin ein angemessenes Umfeld für die Behandlung psychisch Erkrankter sicherstellen“, betonte der Geschäftsführer.
Bad Schussenrieds Bürgermeister Achim Deinet würdigte anschließend die hohe Toleranz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Klinik, die seit Generationen fester Bestandteil der Gemeinde sei. Das Miteinander sei von Verständnis und Respekt geprägt, doch die steigende Zahl forensischer Patientinnen und Patienten stelle die Kleinstadt vor große Herausforderungen. Mit einem eindringlichen Appell an das Sozialministerium forderte Deinet: „Es wird Zeit, dass die Landesregierung endlich auch Therapieplätze in anderen Landesteilen schafft.“
Info
Wie viele Patienten werden in Bad Schussenried behandelt?
Ambulant versorgt im eigenen Wohnraum werden 99 Klient:innen, 48 Klient:innen in stationären Wohngruppen, die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie hat 150 Betten (Bad Schussenried und Biberach), 15 Plätze in der Stationsäquivalenten Behandlung (STÄB-Plätze) sowie 50 tagesklinische Behandlungsplätze.
Wie viele sind davon in der forensischen Psychiatrie untergebracht?
180 Personen, es herrscht Hochbelegung.
Wie viele Beschäftige arbeiten in der Einrichtung?
1.300 (inkl. Verwaltung), davon 1.100 im medizinischen Bereich (ohne Verwaltung). Es gibt 85 Auszubildende.
Autor: Roland Reck
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