Biberach – Alfons Siegel ist wissensdurstig – immer noch. Der 78-Jährige, in Maselheim wohnhaft, machte zunächst eine Lehre als Chemielaborant, arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf, studierte über den Zweiten Bildungsweg für das Lehramt Chemie, Theologie und Psychologie, ehe er sich auch der Politikwissenschaft zuwandte. Nach vielen Jahren als Lehrer kam 1990 noch ein Diplomstudium in Pädagogik/Erwachsenenbildung, Politik und Soziologie hinzu sowie 2003 die Promotion in Politikwissenschaft an der Uni Augsburg. Seit 1995 ist Siegel Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten und seit 2022 Honorarprofessor. Bildung ist sein Elixier, doch Wissen ohne Tun reicht ihm nicht. So gehörte er 1973 zu den Gründern des Arbeitskreises Entwicklungspolitik (AKE), aus dem 1981 der Eine-Welt-Laden in Biberach entstand und seitdem vielerorts Projekte im globalen Süden unterstützt werden. Für sein vielfältiges und unermüdliches ehrenamtliches Engagement erhielt der Graswurzelarbeiter im März das Bundesverdienstkreuz. Sein Credo: Mit seinem Engagement habe er zwar immer nur wenigen Menschen helfen können, „aber es ist besser, ein paar kleine Lichter anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen“, so Siegel. BLIX fragte nach.
Herr Siegel, Sie sind promovierter Politikwissenschaftler, haben über den aus Biberach stammenden Friedensforscher Prof. Senghaas Ihre Doktorarbeit geschrieben, haben sich Ihr Leben lang mit Entwicklungspolitik und Friedensarbeit beschäftigt und sich ehrenamtlich engagiert und haben dafür das Bundesverdienstkreuz erhalten. Wie beurteilen Sie die aktuelle Weltlage mit Blick auf Ihre Kernthemen: Frieden und Entwicklung?
Meine Dissertation über Entwicklungen und Konzepte zur Friedensproblematik bei dem Politiker Matthias Erzberger und dem Wissenschaftler Dieter Senghaas bleibt für mich gerade auch angesichts der besorgniserregenden Weltlage zusätzlicher Anlass, nach Lehren aus der Geschichte und der Friedensforschung zu fragen. Gegen alle Versuchungen, uns – wie etwa die USA unter Trump – nationalegoistisch einseitig auf die Verfolgung von Eigeninteressen zu verengen, könnten wir uns daran erinnern, dass Erzberger noch kurz vor seiner Ermordung 1921 mit zwei Solidarismus-Schriften für die Stärkung Europas und weltweite Solidarität eingetreten ist. Das ist heute, auch angesichts weitgehend verdrängter Entwicklungskrisen und damit verbundener Konflikte vor allem in Afrika (z. B. im Sudan oder Ostkongo), aktueller denn je. Senghaas hat mit seiner Friedens- und Entwicklungsforschung wegweisende Verbindungen zwischen beiden geschaffen und verdeutlicht, wie Entwicklung und Frieden zusammenhängen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass angesichts aktueller Bedrohungslagen durch das imperialistische Russland Putins verstärkt aufgerüstet wird, doch wäre es fatal, wenn deswegen noch weniger Mittel zur Bekämpfung von Not und Elend in der Welt übrigblieben.
Ist das nicht zwangsläufig die Folge?
Gerade wenn militärische Aufrüstung und Abschreckung auf absehbare Zeit unverzichtbar erscheinen, dürfen ihre eventuell friedensschädlichen ‚Risiken und Nebenwirkungen‘ (z. B. verschärftes Sicherheitsdilemma und Feindbildfixierung) nicht verdrängt werden. Bemühungen für Friedensdiplomatie, zur Begrenzung von Rüstung sowie die Suche nach Alternativen zu militärischer Verteidigung dürfen nicht zu kurz kommen. Ein Grundproblem heutiger Weltlage sehe ich darin, dass eine noch gefährlichere Militarisierung internationaler Beziehungen droht. Wie ihr durch kluge Politik, auch mit zivilgesellschaftlichem Engagement, entgegengewirkt werden kann, ist eine der aktuellen Herausforderungen!
Sie zählen zur Nachkriegsgeneration, die die Bundesrepublik mit dem Grundgesetz zur Demokratie entwickelt hat. Heute ist die Demokratie in vielen Ländern von rechtsextremen Parteien massiv bedroht, in den USA genauso wie in Europa und ebenso in Deutschland. Warum, was ist schief gelaufen in den letzten 80 Jahren nach dem Ende des 2. Weltkrieges?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Die Ursachen sind vielfältig, und es ist auch nicht alles schief gelaufen, wenn man etwa an die relative Erfolgsgeschichte West- und Mitteleuropas und der Bundesrepublik Deutschland bis in die Wiedervereinigung hinein denkt. Aber da ist es dann doch wohl nicht ganz gelungen zu verhindern, dass sich viele Menschen der einstigen DDR im vereinigten Deutschland als ‚Bürger*innen zweiter Klasse‘ fühlten und fühlen, mit denen dann populistische Demagogen leichteres Spiel hatten und haben. Nach wie vor käme es diesbezüglich meines Erachtens darauf an, sich für die Geschichte beider deutscher Staaten bis 1989/90 genauer zu interessieren, ihre unterschiedlichen Erschwernisse und Errungenschaften bewusster zu machen. Dass Demokratie in Krisenzeiten verstärkt unter Druck gerät, ist nicht sehr verwunderlich, hat aber vermutlich auch damit zu tun, dass es wohl immer schon ein Defizit an historisch-politischer Bildung gab, die auch deshalb national wie international verbessert werden müsste, damit der Wert von Demokratie – gerade auch in der Krise – klarer gesehen und sie entschlossener verteidigt würde.
Sie haben sich sehr intensiv mit Matthias Erzberger beschäftigt, der mit der Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarung mit Frankreich und seinen Verbündeten den 1. Weltkrieg beendete und deshalb im August 1921 von Mitgliedern eines rechtsradikalen Freikorps ermordet wurde. Der Zentrums-Politiker war Abgeordneter für den Wahlkreis Biberach und liegt dort begraben. Sie setzten sich viele Jahre für eine angemessene Würdigung des Politikers in Biberach ein und regten an, die innerstädtische Hindenburgstraße zur Erzberger Straße umzubenennen. Vor kurzem wurde der kleine Platz vor dem Biberacher Rathaus zum Matthias-Erzberger-Platz benannt, damit ist Erzberger auf Augenhöhe mit Hindenburg, der als General und Chef der Obersten Heeresleitung die Friedensinitiative von Erzberger torpediert und als späterer Reichspräsident Hitler zum Kanzler ernannt hatte. Die Hindenburgstraße stößt nun beim Biberacher Rathaus auf den Matthias-Erzberger-Platz. Der General, der zig-Millionen toter Soldaten zu verantworten hat, der mit der Dolchstoßlegende die Weimarer Republik delegitimierte und mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sie vollends vernichtete, begegnet nun am Biberacher Rathaus seinem ermordeten demokratischen Widersacher. Wird man so der Geschichte gerecht? Fördert man so die Demokratie?
Der ehemalige Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger des Wahlkreises Biberach – Leutkirch – Waldsee – Wangen wirkte seit seiner Umkehr zum Verständigungspolitiker nicht nur als Wegbereiter zum Frieden. Als Reichsfinanzminister 1919/20 hat er mit seiner grundlegenden Reform auch das deutsche Steuersystem einheitlicher und gerechter gemacht und davor wesentlich zur Einführung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland beigetragen. Daran will demnächst auch ein ‚Demokratiespaziergang auf Erzbergers Spuren‘ aufmerksam machen, zu dem die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras am Donnerstag, 15. Mai, in Kooperation mit der Erzberger-Initiative in Biberach einlädt. Er soll um 14.30 Uhr am neu benannten Matthias-Erzberger-Platz vor dem Biberacher Rathaus beginnen, an besonderen Erinnerungsstellen für den in Biberach beigesetzten Politiker vorbeiführen und an seinem Ehrengrab auf dem alten Katholischen Friedhof bei der Ehinger Straße mit einer Kranzniederlegung abgeschlossen werden.
Dass die Biberacher Hindenburgstraße, die bis 1933 Kronenstraße hieß, nun auf den inzwischen nach Matthias Erzberger benannten Platz stößt, darf anstößig erscheinen, zumal auf Paul von Hindenburg wesentlich die verhängnisvolle Dolchstoßlegende zurückgeht, der auch Erzberger zum Opfer fiel. Diese makabere Koinzidenz, dieses etwas beklemmende Zusammentreffen, könnte aber auch ein dauerhafter Stachel, ein Anstoß für tieferes Nachdenken und fruchtbare Diskussionen darüber sein, warum die Biberacher Kronenstraße ausgerechnet im Jahr von Hitlers Machtergreifung in Hindenburgstraße umbenannt wurde, inwiefern Demokratie wertvoll, doch wieder gefährdet ist und wie sie besser verteidigt werden kann.
Sie sind CDU-Mitglied. Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung unter Führung von Friedrich Merz?
Ich möchte diese Frage wieder besonders mit Blick auf die aktuelle Friedens- und Entwicklungspolitik beantworten, die ja eng miteinander zusammenhängen. Nach wie vor ist bei aller gebotenen militärischen Unterstützung der überfallenen Ukraine darauf zu achten, dass die Gefahren weiterer Eskalation minimiert und sich eventuell bietende Chancen für eine akzeptable Verhandlungslösung nicht verpasst, sondern gefördert werden. Erkenntnisse und Verlautbarungen aus der Friedensforschung, wie sie zum Beispiel auch über das jeden Sommer erscheinende Friedensgutachten veröffentlicht werden, sollten so gut wie möglich wahrgenommen werden und für die Politik der neuen Bundesregierung erkennbar Berücksichtigung finden. Hinsichtlich der notwendigen Stärkung der Bundeswehr und ihrer Verteidigungsfähigkeit erwarte ich, dass das nicht zu weiteren Kürzungen für die Entwicklungszusammenarbeit führt. Sparen auf Kosten der Ärmsten ist bzw. wäre unmoralisch und unchristlich. Stattdessen sollten auch die Aufwendungen für Entwicklungszusammenarbeit möglichst wieder den steigenden Herausforderungen angepasst werden; nicht nur, weil dies ein Gebot der Menschlichkeit, sondern längerfristig auch friedensfördernd ist. Zudem wäre die Politik der neuen Bundesregierung stärker darauf auszurichten, weltwirtschaftlichen Benachteiligungen von Entwicklungsländern gezielter entgegenzuwirken und deren teilweise dramatische Verschuldung entschärfen zu helfen, damit dort nicht ganze Volkswirtschaften zusammenbrechen, was auch international gravierende Folgen hätte, nicht zuletzt durch weitere Armutsmigration. Ich erwarte gerade von einem Bundeskanzler aus einer Partei mit dem „C“, dass Deutschland als eines der wohlhabendsten Länder der Welt seiner Mitverantwortung für ärmere Länder deutlicher gerecht wird. Das wäre auch international ein wichtiges Signal, um weltweite Solidarität anzuregen und zu verstärken!
Sie engagieren sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich und nehmen sich politisch schwierigen Themen an, mit denen man keine Wahlen gewinnen kann. Wie motivieren Sie sich in diesen schwierigen Zeiten?
Im Unterschied zu vielen Menschen in anderen Teilen der Welt (etwa in Diktaturen oder im armen Süden), aber auch gegenüber unseren Vorfahren lebe ich unter ziemlich privilegierten Bedingungen in relativem Wohlstand und großer Freiheit, die mir mannigfache Möglichkeiten und Spielräume bieten, mich auch für Menschen einzusetzen, die nicht so gut dran sind oder gar ständig Not leiden. Insbesondere unverschuldetes Leid von Kindern in Hunger- und Kriegsgebieten ist für mich ein himmelschreiendes Ärgernis, ein Unrecht, mit dem ich mich nicht einfach abfinden möchte, solange ich gesund genug bin und Kraft habe, das mir Mögliche dagegen zu tun. Auch die jahrelange Kooperation mit ganz vielen Menschen guten Willens, deren Idealismus und Hilfsbereitschaft ich kennen- und schätzenlernen durfte, ermutigt mich weiter dazu. Nicht zuletzt beeindruckende Begegnungen mit besonderen Vorbildern, die tätige Nächstenliebe – auch für Menschen in und aus fernen Ländern – besonders glaubwürdig vorgelebt haben, motivierten und motivieren mich weiter in meinem Engagement. Dass dieses – überraschend für mich – mit dem Bundesverdienstkreuz honoriert wurde, freut mich sehr, ich fasse es aber auch als zusätzliche Ermutigung, ja als Verpflichtung auf, nicht zu resignieren, sondern das, was mir möglich ist, für eine bessere Welt zu versuchen. Die schöne Erfahrung, vor allem in der Gemeinschaft mit anderen Menschen nicht ohnmächtig zu sein, sondern mit ihnen wenigstens im Kleinen manch Gutes bewirken zu können, ist auch sinnstärkend und macht zuversichtlich.
Autor: Roland Reck
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