Das Mai-Blatt gilt dem Kißlegger Bahnhof

Kißlegg – Auf dem Mai-Blatt seines historischen Kalenders befasst sich Heimatpfleger Bernd Mauch mit den Kißlegger Bahnhof. Er schreibt:
Mit der feierlichen Eröffnung der Bahnstrecke zwischen Waldsee und Kißlegg am 15. September 1870 begann für den Ort Kißlegg ein neues Zeitalter. War man doch durch diese Bahnlinie auf einmal mit einer neuen Mobilität gesegnet und konnte den Rest der Welt über die Schiene erreichen. Wobei hier nicht nur der Personenverkehr, sondern vor allem auch der Güterverkehr neue Perspektiven bot. Der Bahnhof mit seinem prächtigen Gebäude war nun einer der Dreh- und Angelpunkte in Kißlegg. Gewerbebetriebe siedelten sich in den folgenden Jahrzehnten nahe dem Bahnhof an und nutzten die Schiene, um Güter zu transportieren und zu empfangen. Das Raiffeisen-Lagerhaus bekam viele Waren über die Schiene wie Kohlen, Briketts, Düngemittel, Torf und Futtermittel, die Firma Rinninger verlud ihre Betonrohre auf die Waggons, die Omira schickte damit Käse und Milchprodukte auf die Reise. Vieh wurde verladen und natürlich wurden auch viele Personen befördert.

Neben dem Bahnhofgebäude (Bild; 1960er-Jahre) befand sich das Gebäude der Güterabfertigung, gegenüber war ein großes Mehrfamilienhaus, das Dienstgebäude Nr. 10, in dem viele Bahnmitarbeiter mit ihren Familien ein Zuhause fanden.

Das Dienstgebäude Nr. 10 (1925)

Im weiteren Verlauf der Schienen waren mehrere Lokschuppen und sogar eine Drehscheibe (Bild; ca. 1958), die für die Rangierarbeiten und das Umsetzen der Waggons genutzt wurde.


Für die Rangierarbeiten wurden kleine wendige Rangierloks (Fotos oben; 1970er-Jahre) benutzt wie die 335 mit ihren 240 PS, aber für den Transport auf der Strecke benötigte man Zugpferde wie die berühmte V100 mit ihren 1350 PS.

Die V100 (1965)

Im Personenverkehr wurden in der ersten Zeit die mächtigen schwarzen Dampflokomotiven (Foto oben; ca. 1930) eingesetzt, in späterer Zeit die bekannten roten Schienenbusse, die aber eher im Nahverkehr Verwendung fanden. Liebevoll “Ferkeltaxi” genannt, weil oft am Mittwoch, wenn in Wangen Wochenmarkt war, Landwirte Kisten mit Ferkeln damit nach Wangen mitnahmen. Dafür gab es gesonderte Abteile im Schienenbus.

Eine ganz wichtige Person war der Kondukteur, also der Schaffner (Bild; 1967), der auf dem Bahnsteig beaufsichtigte, dass Alle ein- und aussteigen konnten und wenn alle Türe geschlossen waren, gab er per Pfiff dem Lokführer das Okay zum Losfahren. Er fuhr natürlich auch selber mit, musste er doch die Fahrkarten mit seiner Zange entwerten, deshalb wurde er im Volksmund auch “Fahrkartenzwicker” genannt.

Für die Fahrten im Nahverkehr gab es die Edmondsonschen Fahrkarten, benannt nach ihrem Erfinder Thomas Edmondson, einem britischen Stationsvorsteher der Bahnlinie Newcastle-Carlisle, der 1836 diese Fahrkarten erfand (damals noch aus dünnerem Material und in bunten Farben). Fahrkarten in weiter entfernte Orte wurden am Fahrkartenschalter meist von Hand ausgefüllt, da ja nicht für jede Stadt vorgedruckte Fahrkarten am Schalter vorrätig waren.

Ein besonders Bild bot sich immer, wenn Transportkarren mit mehreren Anhängern, beladen mit hunderten flachen Kartons mit Sichtfenstern auf dem Bahnsteig standen (Foto; etwa 1976). Man musste sie gar nicht sehen, die konnte man schon von Weitem riechen. Da wurden Tausende von weißen Ratten und Mäusen in alle Welt verschickt. Versuchstiere von der Firma Ivanovas, die später ihr Ende in Versuchslaboren fanden. Aber damals für die Bahnreisenden ein fast schon alltägliches Bild.

Am Kiosk (um 1940).

Reisegruppe um 1940. Rechts der Kiosk.
Im Bahnhof befand sich natürlich auch ein Kiosk, an dem sich Reisende und Bahnbedienstete mit Reiseproviant, Bier, Schnaps und Zigaretten versorgen konnten.

Gastronomie war in Bahnhofsnähe natürlich schon vor 1900 zu finden. Schräg gegenüber dem Bahnhof befand sich die Bahnhofsrestauration, damals geführt von Wilhelm Kehrmüller, der berühmt für sein gutes Essen war. Hier zahlten auch die Viehhändler ihre Kunden aus für das Vieh, das an der Güterverladerampe per Zug in die Ferne ging. Einige Meter weiter vorne gab es die beliebte Restauration von Franz Klarmann (Foto; 1914), der nebenher auch noch Tierarzt war und mit Vieh handelte. Wenn der Zug zum ersten Mal pfiff, wussten die Gäste, dass sie austrinken und bezahlen mussten, wenn sie den Zug noch erreichen wollten; 15 Minuten bis zum zweiten Pfiff, dann fuhr der Zug ab.
Heute kann man im Bahnhof keine Fahrkarten mehr kaufen. Da wo früher die Schalterhalle war, befindet sich heute ein modernes Café. Die Güterabfertigung ist heute ein Jugendhaus, die Güter- und Lokschuppen wurden abgerissen, die Drehscheibe ausgebaut. Das Dienstgebäude Nr. 10 beherbergt nach wie vor Familien, aber ohne Bezug zur Bahn.

Das Mai-Blatt des Mauch´schen Kalenders.