Theaterfest statt Fasnet in Ravensburg

Ravensburg – Das zumindest könnte die Überschrift des Abends sein. Denn Alex Niess, Ana Schlaegel, Marco Ricciardo und Markus Hepp schlüpfen in Alfred Hitchcocks berühmtem Stück „Die 39 Stufen“ in atemberaubendem Tempo in fast 150 verschiedene Rollen. Mal als Professor oder Polizist, mal als Milchmann, Bäuerin, Gepäckträger oder Zeitungsjunge. Mal im Zug, dem schottischen Moor, der Großstadt oder im Hotelzimmer. Slapstick in Bestform. Von Langeweile kann also nicht die Rede sein.
Was finden Sie so schön am Theater Ravensburg? „Die Atmosphäre, das familiäre Umfeld, einfach das Künstlerische in dieser Gruppe. Für Ravensburg sensationell“, freut sich Besucher Patrick Liebig (61). „Wir gehen viel zu selten ins Theater und wollten heute bewusst ein paar lustige Momente erleben.“ Patrick ist mit seiner Frau Stefanie (56) da. Sie haben lange in Ravensburg gewohnt, sind jetzt in die Nähe von Wangen gezogen, kommen aber immer wieder gern zurück. „Kultur geht verloren. Deshalb sind wir hier.“
Am Freitag, 28. Februar, einen Tag nach der Weiberfasnet. Der Saal ist gut gefüllt. Fast alle 150 Plätze sind besetzt. Viele Pärchen wie die Liebigs haben auf den rot-samtigen Stühlen aus hellem Holz Platz genommen. Vereinzelt Männer, mehr Freundinnen-Grüppchen. Der Frauenanteil ist hoch. Drei Damen haben sich – passend zur Fasnet und dem heutigen Stück – im Stil der 1930-iger Jahre eingekleidet.
Ein bisschen Marlene Dietrich, ein Hauch von Film noir. Aus den Boxen schallt Musik, die Comedian Harmonists lassen grüßen. Ein Mann im Frauenkostüm begleitet die Besucher zum Platz. Während im Kino nebenan „Wunderschöner“ läuft und die Themen der Gegenwart behandelt, taucht hier das Publikum gleich in die Welt der Geheimagenten des letzten Jahrhunderts ein.
Mr. Memory und Napoleons Pferd
Die Geschichte ist schnell erzählt: Der kanadische Tourist Richard Hannay trifft im Jahr 1935 im Londoner Westend auf Annabella Smith, die behauptet, eine britische Spionin zu sein, auf der Flucht vor ausländischen Agenten. Richard – ganz Gentleman – bietet ihr Asyl in seiner bescheidenen Unterkunft an. „Sie können im Bett schlafen. Ich mache es mir – für England – auf dem Sofa gemütlich.“ Am nächsten Morgen torkelt Annabella mit einem Messer im Rücken ins Zimmer und sagt zwei Worte: 39 Stufen. Danach ist sie tot. Schnell wird Richard als einziger Tatverdächtiger gesucht. Auf seiner Flucht trifft er Menschen, die ihn jagen – wie der Mann mit dem abgeschnittenen Finger, aber auch welche, die ihm helfen.
Doch der Reihe nach. Alles beginnt – und endet auch – mit einer Vorstellung des berühmten Mr. Memory im Londoner Palladium. Mit einem Mann, der sich 60 neue Sachen pro Tag merken kann. Dinge wie „Wer gewann 1926 den Cup?“. Die Antwort: Tottenham. Oder „Wie hieß Napoleons Pferd bei der Schlacht um Waterloo?“. Klarer Fall: Marengo. Nach dieser humorvollen Einführung tritt Richard Hannay in Erscheinung und die Dinge nehmen ihren Lauf. Müsste man eine passende Beschreibung für diese Art von Theatervorstellung suchen, akustische Pantomime gepaart mit Slapstick und Dialogkomik würde es wahrscheinlich am besten treffen.

Slapstick und Dialogkomik in Bestform
Alle Orte und Geschehnisse werden mit Bewegungen und Lauten in Szene gesetzt: das Quietschen der Autotür, das Runterkurbeln eines Fensters, das Rütteln des Zuges, ein Windstoß von draußen. Auch die Duschszene von „Psycho“ findet ihren Platz im Getümmel. Einer der Schauspieler – der Mann mit Glatze – muss sogar als stinkendes Moor, schmale Felsspalte und stachliger Dornenbusch herhalten. Vielfältige Lichteffekte und hallende Raffinessen aus Regen, Donner und Sturm untermauern das Spektakel.
Im Laufe der Geschichte flüchtet Richard Hannay aus dem Polizeirevier, landet bei einem Bauernpärchen – und lässt seinen Charme spielen. Allein im Raum mit der Bauersfrau Margaret, die in ihrer eigenen einfachen Welt lebt und fragt: „Stimmt es, dass die Frauen in London ihre Fußnägel lackieren?“ und „Und finden sie diese Frauen schön?“ antwortet Richard selbstbewusst: „Nicht, wenn sie neben ihnen stehen“. Ein echter Womanizer. Margaret schenkt dem Flüchtigen den Mantel ihres Mannes. Zum Glück: Denn der Schuss seiner Verfolger trifft nicht sein Herz, sondern nur die Bibel, die in der Innenseite der Manteltasche steckt. Gottseidank.
Wieder im Londoner Palladium angekommen, kurz vor seiner Festnahme, kann Richard seine Unschuld beweisen. Den Mann mit dem abgeschnittenen Finger, seines Zeichens Professor Jordan alias Geheimagent des Spionagerings „Die 39 Stufen“ trifft eine Kugel – und er fällt um. Der Bösewicht ist tot, die Welt gerettet. Um 22.35 Uhr ist die Vorstellung zu Ende, das Publikum applaudiert. Auch die Liebigs sind zufrieden. Ihr Fazit des Abends: „Wir sollten öfters ins Theater gehen“.
Separater Kasten „Über das Theater Ravensburg – und Alfred Hitchcock“
Mit jährlich über 200 Aufführungen ist das Theater nicht nur ein kulturelles Aushängeschild der Stadt Ravensburg, sondern auch eine sehr produktive Wirkungsstätte. 1987 ohne feste Spielstätte gegründet, erfolgte 1996 der Umzug in die Zeppelinstraße 7, unweit der Ravensburger Innenstadt. Bereits seit über zehn Jahren jagen die Schauspieler „Die 39 Stufen“ und wurden dafür mit dem Olivier Award für die Best New Comedy ausgezeichnet. www.theater-ravensburg.de
Wer mehr Dramatik in Hitchcock-Manier sehen und erleben will, der schaut in die Mediathek von ARTE. Da gibt es „Die zwölf Geschworenen“, einen Klassiker aus dem Jahr 1957 mit Henry Fonda.




Bilder: © Fred Nemitz