ME/CFS-Betroffene machen mit Liegend-Demo auf ihre Erkrankung aufmerksam
Region – Rund 500 Personen nahmen bei hochsommerlichen Temperaturen an der Liegend-Demo Bodensee-Region teil, die am Samstag, 10. Mai 2025, auf dem Ravensburger Marienplatz stattfand. Die Kundgebung war Teil der weltweiten Kampagne zum Internationalen ME/CFS-Tag, der alljährlich am 12. Mai begangen wird. Im Rahmen der zweieinhalbstündigen Veranstaltung kamen Betroffene, Ärzte, Kommunalpolitiker und Abgeordnete aus der Region zu Wort.
Das Kürzel ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom, eine schwere chronische Multi-System-Erkrankung, die faktisch alle Körperfunktionen beeinträchtigen kann und für die es bis heute keine Therapie und keine Medikamente gibt. Allein in Deutschland waren bereits 2023 rund 620.000 Menschen von ME/CFS betroffen. Seitdem ist die Zahl der Erkrankten weiter gestiegen. Die Dunkelziffer gilt als hoch, weil die Krankheit oft nicht richtig erkannt und diagnostiziert wird.
https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/
Gesellschaftlicher Skandal
„Obwohl die Krankheit seit 1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt ist, wird ME/CFS bis heute verharmlost. Wir wollen aufklären und gleichzeitig für eine bessere Versorgung der vielen Patienten eintreten“, fasste Sibylle Emmerling vom Organisations-Team der Liegend-Demo die Ziele der ungewöhnlichen Kundgebung zusammen. „Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass hunderttausende schwerkranke Menschen um die Anerkennung ihrer Krankheit kämpfen müssen und medizinisch nur unzureichend versorgt werden“, so Emmerling weiter.

Organisiert wurde die erste Kundgebung dieser Art in Ravensburg von einem Bündnis regionaler Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen der Initiative Liegend-Demo, die Gruppe Nicht-Genesen, die Post-Covid-Selbsthilfegruppe Corona im Ländle sowie den Post-Covid-Selbsthilfegruppen im Landkreis Ravensburg. Die Organisatoren zeigten sich überwältigt von der großen Resonanz, auf die der Demo-Aufruf gestoßen sei. Die Tatsache, dass 500 Personen an der Kundgebung teilnahmen, verdeutliche den dringenden Handlungsbedarf, so Sibylle Emmerling. Moderiert wurde die rund zweieinhalbstündige Veranstaltung von der Journalistin Andrea Trübenbacher.
Krankheit mit hohem Leidensdruck
Der Neurologe Lienhard Dieterle erläuterte in seiner Rede das komplexe Krankheitsbild von ME/CFS. Bereits lange vor der Corona-Pandemie habe er immer wieder Patienten behandelt, die nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder nach Herpes-Infektionen an ME/CFS erkrankt seien. „Es waren zwar nur wenige Patienten, ihr Leidensdruck war aber beträchtlich“, erinnerte sich Dieterle. Während der Corona-Pandemie seien immer neue Patienten hinzugekommen, die aber zunächst nicht ernst genommen wurden. „Sie sahen vordergründig gesund aus – trotzdem kamen viele nicht mehr auf die Beine“, berichtete Dieterle.
https://www.neurologie-oberschwaben.de

Anschließend zählte der Neurologe eine schier nicht enden wollende Liste von Symptomen auf, die ME/CFS-Patienten ertragen müssten: schwere chronische körperliche und kognitive Erschöpfung mit Einschränkungen der geistigen Funktionen, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Kopfschmerzen Muskel- und Gelenkschmerzen, Brustschmerzen, Herzrhythmusstörungen mit beschleunigtem Herzschlag, Durchblutungsstörungen, Störungen der Nierenfunktion, Ein- und Durchschlafstörungen und Ängste. Experten rechnen mehr als 200 Symptome zum Krankheitsbild ME/CFS. Kernsymptom der Erkrankung ist die sogenannte Post-Exertionelle Malaise (PEM), die zeitverzögerte Symptomverschlechterung auch nach geringer geistiger, körperlicher oder emotionaler Überanstrengung.

Schwerbetroffene sind Pflegefälle
Dieterle verwies darauf, dass selbst mild von ME/CFS Betroffene in ihre Funktionsniveau um 50 Prozent eingeschränkt seien. „Schwere und schwerste Krankheitsverläufe machen die Erkrankten zum Pflegefall. Diese müssen vor Reizüberflutung geschützt werden und in einem abgedunkelten Raum versorgt werden.“

Kinder und Jugendliche leiden besonders
Wie gravierend sich ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen auswirkt, darüber sprach Nora Volmer-Berthele, die Chefärztin der Reha-Klinik für Kinder und Jugendliche in Wangen. Die Klinik ist eine von bundesweit nur drei pädiatrischen Rehakliniken, die sich auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long-Covid-ähnlichen Erkrankungen spezialisiert hat und entsprechend von der Bundesregierung gefördert wird. „Kinder und Jugendliche, die an ME/CFS erkranken, können nicht alle Entwicklungsschritte gehen, auch der Schulbesuch ist nur in seltensten Fällen möglich“, so die erfahrene Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychotherapeutin. „Darauf müssen wir ein besonderes Augenmerk legen.“
https://www.fachkliniken-wangen.de/905-rehabilitationsklinik-fuer-kinder-und-jugendliche-rehabilitationsklinik-fuer-kinder-und-jugendliche.html

Aktuell, so Volmer-Berthele, gehe man von 80.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren aus. „Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs“, warnte Volmer-Berthele eindrücklich. „Wir hatten am Angang die Hoffnung, dass sich Kindern und Jugendliche schneller von der Krankheit erholen. Wir stellen mittlerweile fest, dass dem nicht so ist“, so Chefärztin Volmer-Berthele. Zwar käme es bei zwei Dritteln ihrer Patienten im Schnitt nach etwa fünf Jahren zu einer Verbesserung. Allerdings lägen die Varianzen zwischen einem und mehr als zehn Jahren.
„Wir haben keinerlei adäquaten Behandlungsmöglichkeiten, wir können nur gemeinsam mit den Patienten schauen, was geht“, bilanzierte Volmer-Berthele. Die Forschung sei noch nicht ausreichend, vor allem bei der Erforschung geeigneter Medikamente sei man weit von dem entfernt, was erforderlich sei.


Selbst Nahrungsaufnahme wird für Schwerstbetroffene zum Kraftakt
Eindrucksvoll war auch der verlesene Bericht aus dem Alltag einer jungen Frau aus der Bodensee-Region, die schwerstbetroffen von ME/CFS ist. 21 von 24 Stunden sei sie bettlägerig und könne das Haus nicht mehr verlassen. Nur ein paar Mal pro Jahr könne sie Arzttermine wahrnehmen. „Dann werde ich liegend, mit Gehörschutz und Augenmaske zu den Arztterminen gefahren, da auch Licht und Geräusche zu verstärkten Symptomen führen.“ Sie sei aufgrund der Erkrankung nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen, und könne nicht einmal mehr das ins Haus gelieferte Essen aufwärmen: „Selbst das Essen an sich ist ein Kraftakt und benötigt mehrstündige Ruhe vorher und nachher.“

„Wie kann in einem so fortschrittlichen Land wie Deutschland, in Anbetracht dieser immens hohen Zahlen von jungen Betroffenen, die nicht mehr arbeiten können, bettgebunden sind und ihr komplettes Leben aufgeben mussten, weggeschaut werden?“, mahnte die junge Frau eindringlich. Sie ließ nach ihrem Bericht zu verstärkten Forschungsbemühungen aufrufen und einen Spendenappell zugunsten der ME/CFS Research Foundation verlesen. Diese Organisation fördert die biomedizinische ME/CFS-Forschung und organisiert regelmäßig internationale Fachkonferenzen.
https://mecfs-research.org/
„In meinem Körper tobt ein unsichtbarer Kampf“
Die 29-jährige Alina Schmälzle sei bereits lange vor der Corona-Pandemie an ME/CFS erkrankt, wie sie in ihrer Ansprache berichtete. Rund 250.000 Fälle von ME/CFS waren bereits vor 2020 aktenkundig. Alina Schmälzle gehört zu ihnen. Sie infizierte sich 2019 innerhalb weniger Monate zunächst mit dem Epstein-Barr-Virus und dann mit Gürtelrose. Extreme Muskelschmerzen, Fieber, geschwollene Lymphknoten und eine immense, anhaltende Erschöpfung waren die Folge. Ihr Hausarzt beruhigte sie anfänglich, doch die Symptome verschlimmerten sich stetig. Erst nach einer rund zwei Jahre dauernden Ärzte-Odyssee fand Schmälzle einen Arzt, der das Krankheitsbild ME/CFS erkannte.

Heute ist die einst so sportliche Frau die meiste Zeit ans Haus oder ans Bett gebunden. Extreme Erschöpfungszustände, Schmerzen und eine bleierne Schwere am ganzen Körper prägen ihren Alltag, berichtete sie. Selbst für wenige Meter benötige sie einen Rollator oder einen Rollstuhl. „In meinem Körper tobt ein unsichtbarer Kampf. ME/CFS raubt Menschen ihr Leben. Es tötet langsam und leise.“, so Alina Schmälzle. Aber sie gebe nicht auf. Sie vernetze sich eben online mit Betroffenen. Als Aktivistin kämpft Schmälzle bereits seit Jahren für die gesellschaftliche Akzeptanz der Erkrankung und die bessere Versorgung der Betroffenen.
Von Ärzten nicht ernst genommen
Frustriert berichtete Alina Schmälzle von Arztbesuchen, bei denen sie nicht ernst genommen werde. „Jedes Mal muss ich erklären, was ME/CFS ist.“ Und nicht selten bekomme sie dann zu hören: „Sie sind noch jung, gehen sie einfach raus an die frische Luft.“ Medical Gaslighting nennt sich das von zahlreichen ME/CFS-Betroffenen beklagte Gefühl, dass medizinisches Personal ihre Symptome und Beschwerden nicht ernst nehme oder bagatellisiere. Experten sehen eine der Ursachen für dieses Phänomen in der Tatsache, dass ME/CFS bis heute kein fester Bestandteil der universitären Ausbildung von angehenden Ärzten ist.
Grünen-Politikerin Petra Krebs: „ME/CFS lässt mich nicht kalt“
Für die Wangener Landtagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Petra Krebs ist ME/CFS und die Solidarität mit den Betroffenen eine „Herzensangelegenheit“, wie sie sagt. Als Abgeordnete sei sie zur Liegend-Demo gekommen, „um Verantwortung zu übernehmen.“ „Verantwortung dafür, dass diese Erkrankung ernst zu nehmen ist und Betroffenen zu helfen und diesen auch Hoffnung zu spenden.“


Krebs verwies auf den „jahrelangen Leidensweg“, die viele Betroffenen hinter sich hätten: „Endlose Arztbesuche, Unverständnis im Umfeld, oftmals das Gefühl, allein gelassen zu sein. Das lässt mich nicht kalt – und es darf auch sonst niemanden kaltlassen.“ Es sei notwendig, gemeinsam Veränderungen im Bereich der Versorgung der Betroffenen und der Forschung anzustoßen, so die gesundheitspolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion. Zudem müsse „die Gesellschaft mehr Empathie statt Vorurteile zeigen.“
https://petrakrebs.de/
Grünen-Abgeordnete Agnieszka Brugger und Anja Reinalter senden Grußworte
Anna Wiech, die Ravensburger Kreisgeschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen und Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Gemeinderat der Stadt Ravensburg verlas anschließend Grußworte der Ravensburger Bundestagsabgeordneten Agnieszka Brugger und ihrer Biberacher Kollegin Anja Reinalter. Beide konnten aus terminlichen Gründen nicht vor Ort sein.
https://www.agnieszka-brugger.de/
https://reinalter.info
Brugger verwies darauf, dass nach wie vor Menschen, die an ME/CFS erkrankt sind, nicht ernstgenommen würden. „Die Demo macht sichtbar, was sonst im Stillen bleibt.“ Zwar seien durch die Bereitstellung von 200 Millionen für Forschung und Therapien erste Fortschritte erzielt worden. „Aber es reicht noch lange nicht. Es gibt weiterhin kein zugelassenes Medikament, keine flächendeckende Versorgung, und viele fallen aus den sozialen Sicherungssystemen“, so Brugger.


Auch Anne Rommelspacher, Fraktionsvorsitzende der CDU im Ravensburger Stadtrat, nahm an der Liegend-Demo teil. Hier zusammen mit ihrer grünen Stadtratskollegin Anna Wiech. Foto: Frank Vollmer.
CDU-Politiker Axel Müller mahnt umfassende Aufklärung über ME/CFS an
Der Ravensburger CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Müller verwies in seiner Rede darauf, dass es „bislang keine tragfähigen Handlungskonzepte“ für den Umgang mit ME/CFS gebe. „Obwohl ME/CFS bereits seit 1969 von der WHO als Erkrankung anerkannt ist, stößt man auch im medizinischen Bereich auf große Unkenntnis“, so Müller.
https://www.cduaxelmueller.de/

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Müller mahnte in seiner Rede die umfassende Aufklärungsarbeit der Gesellschaft über ME/CFS an. Foto: Frank Vollmer.
Den Organisatoren der Liegend-Demo rief Müller zu: “Das was Sie heute betreiben, das muss intensiviert werden. Wir müssen aufklären, nicht nur im medizinischen Bereich, nicht nur in der Politik, nein, wir müssen auch die Gesellschaft aufklären, dass jemand, der eben nicht hochkommt, das nicht aus Unwillen tut, sondern weil er es nicht kann.“

Hoffnungsvolle Ideen in der Forschung, aber es fehlt am Geld
Der Vogter Kinderarzt
Herbert Renz-Polster
ist nach einer Infektion mit dem Influenza-Virus selbst ME/CFS-Betroffener. Er beklagte in seinem Grußwort, das von einer Betroffenen vorgetragen wurde, einerseits die nach wie vor fehlenden Forschungsfinanzierung und die fehlende Anerkennung der schweren Erkrankung innerhalb der Ärzteschaft. Gleichzeitig verwies er auf die „unglaublich vielen Anstrengungen, die schon unterwegs sind“ und die „hoffnungsvollen Ideen, die es in der Forschung“ gebe.
https://www.kinder-verstehen.de/
In seinem Schlusswort sprach Renz-Polster so manchem Betroffenen aus dem Herzen: „Ich wünsche mir, dass wir Gehör finden, stehend und liegend, laut schreiend oder leidend.“
Infobox
Wer Kontakt zu den ME/CFS- und Post-Covid-Selbsthilfeorganisationen in der Region aufnehmen möchte, kann dies unter folgenden E-Mail-Adressen tun:
Initiative Liegend-Demo: liegenddemo.bodenseeregion@gmail.com
Selbsthilfegruppe „Corona im Ländle“: kontakt@corona-im-laendle.de Post-Covid-Selbsthilfegruppe im Landkreis Ravensburg: shg-post-covid-rv@gmx.de.