„Irgendwie habe ich durchgehalten“
Ravensburg – Sie kann sich sehr reflektiert, verständlich, ja eloquent ausdrücken. Doch ihr Leben glich bisher eher einer Berg- und Talfahrt. Sonja M. hat FASD. Es steht für Fetale Alkoholspektrumstörungen, ausgelöst durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Die Schädigungen des Gehirns durch den Alkohol verursachen lebenslang kognitive Beeinträchtigungen wie Lern-, Merk- und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Diagnose erhielt die 31-Jährige erst spät. Inzwischen lernt sie, besser mit den Einschränkungen umzugehen. Die FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau unterstützt sie dabei.
Stresslevel mit offenkundigen Folgen
Seit einem halben Jahr geht es Sonja M. (Name geändert) spürbar besser. Erleichterung verschafft ihr die Erwerbsminderungsrente, die sie seither erhält. Dadurch kann sie „mehr mit sich sein“, ist nicht mehr den für sie häufig zu hohen Anforderungen der Umwelt ausgesetzt. Zum Gespräch ist Sonja M. per Video zugeschaltet. Heute fühlt sie sich nicht wohl, hat Bauchschmerzen und Fieber. Ihr Leben ist geprägt von vielen guten Tagen, aber eben auch von schlechten Zeiten. „Ich kann extrem gestresst sein wegen Kleinigkeiten“, schildert sie. „Ich bin dann handlungsunfähig, wie gelähmt.“ Migräne, Kopfschmerzen, Übelkeit, depressive Verstimmungen gehören zu ihren Stressreaktionen.
Von Erfolg und Scheitern
Trotz der Einschränkungen durch FASD hat Sonja M. eine Ausbildung zur Hauswirtschaftshelferin am Berufsbildungswerk (BBW) in Ravensburg absolviert. „Ich hab’s ausgehalten, durchgehalten. Irgendwie“, sagt sie über den mühevollen Weg. Geprägt war auch diese Zeit von vielen Krankheitstagen. Im Grunde war es eine Fortsetzung der schwierigen Schulzeit mit mehreren Schulwechseln. Die Werkrealschule schloss sie aber durchaus mit gutem Ergebnis ab. Später musste sie etliche Arbeitsstellen aufgeben. „Solches Scheitern begleitet Menschen mit FASD fortwährend“, erklärt Michael Reiser von der FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau in Ravensburg. Die Umwelt tue sich oft schwer mit der „unsichtbaren“ Behinderung. Das schwer nachvollziehbare Verhalten werde oft als Charakterschwäche abgetan.
Ein Glück: die Pflegefamilie
Aufgewachsen ist Sonja M. ab ihrem zweiten Lebensjahr in einer Pflegefamilie, bei der sie sich sehr wohl und aufgehoben fühlte. „Zum Glück hat sie mich behalten“, sagt sie. Doch schon in der Kindheit zeigten sich erste Überforderungsreaktionen. Sie war öfter krank. Schon damals reagierte sie hochsensibel auf Geräusche. „Es fühlte sich manchmal an, als ob mir jemand eine Tonne Eisen um den Hals gehängt hätte“, gibt sie manchen Phasen in ihrem Leben ein Bild. Auf die inzwischen bekannte Behinderung ist noch niemand gekommen. Ihre Pflegemutter aber blieb hartnäckig bei der Ursachensuche: Erst vor etwa sieben Jahren stellte eine Ärztin die Diagnose FASD. Nach dem ersten Schock kam die Erleichterung. Und der kraftraubende Versuch, trotzdem am ersten Arbeitsmarkt zu bestehen, der dann in einer schweren Depression mündete.
Unterstützung hilft
Wahrscheinlich wird sie nie einer regulären Arbeit nachgehen können. Dennoch wirkt sie aufgeräumt. Die Rente hilft ihr finanziell, ihre Betreuerin von der Arkade Ravensburg und die FASD-Fachstelle unterstützen sie fachlich. Hilfreich ist für Sonja M. dabei auch der Stress-Stopp-Kurs der FASD-Fachstelle. In der Kleingruppe trifft sie auf Menschen, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Gemeinsam lernen sie mit den Folgen der hirnorganischen Schädigung als Folge des mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft umzugehen.
Mut haben, darüber zu sprechen
An guten Tagen ist die junge Frau gerne unterwegs und mag es zu fotografieren. Außerdem sei sie offen für Menschen, sei empathisch, alles andere als oberflächlich und sie könne gut Gespräche führen. Möglichen Betroffenen empfiehlt Sonja M.: „Selber den Mut finden, mit Ärzten über die eigene Vorahnung zu sprechen. Auf sich und die Symptome hören und offen mit der Situation umgehen.“
Interview
Nachgefragt bei Sozialarbeiterin Beate Braiger, die Sonja M. (Name geändert) als Sozialarbeiterin bei der Arkade in Ravensburg betreut.
Einschränkungen durch FASD erfordern eine andere Begleitung als die meisten psychischen Behinderungen. Beate Braiger begleitet. Über ihre soziale Arbeit berichtet sie im Interview.
Frau Braiger, wie lange sind Sie schon die Betreuerin von Frau M.?
Ihre Betreuung habe ich von ungefähr 2,5 Jahren übernommen. Da war sie in einer besonders schwierigen Phase. Sie stand unter dem Vorzeichen einer Depression. Die war die Folge der dauerhaften Überforderung durch ihre Umwelt, der sie nicht mehr standhalten konnte.
Woher kannten Sie FASD und wie wirkt die Krankheit sich auf die Begleitung von Frau M. aus?
FASD war mir von der früheren Arbeitsstelle her nicht unbekannt. Frau M. war aber meine erste Klientin mit FASD. Ich habe die Diagnose der Ärztin nochmal genau studiert. Etwas später hörte ich auch von der FASD-Fachstelle. Unsere Arbeit hat sich nach und nach verändert. Bei unserer Klientel, bei der psychische Erkrankungen im Vordergrund stehen, geht es in der Begleitung darum, wie hält man zum Beispiel eine Arbeitsstelle, welche Maßnahmen braucht es. Es stehen eher Motivation, Empowerment und Förderung im Vordergrund. Als Sozialarbeiterin muss man bei FASD aus diesem Denken raus. Man muss die betroffenen Menschen vermitteln, dass sie sich zurücknehmen dürfen. Anforderungen und Erwartungen müssen an die vorhandenen Fähigkeiten angepasst werden, um anhaltende Überforderung zu vermeiden, die ansonsten zu Reaktionen wie Depression führen kann.
Gibt es heute im Vergleich zum Beginn der Betreuung von Frau M. Verbesserungen?
Ja, die gibt es sehr wohl. Es ist viel passiert. Anfangs hatte sie wohl eher das Gefühl, sie muss mir Antworten geben, die ich von ihr erwarte. Das löste sicher Stress bei ihr aus. Mehr über FASD zu erfahren, hat bei mir zu einer anderen Haltung geführt. Ich verstehe die Situation von Frau M. besser und kann mich besser einfühlen. Es ist entspannt zwischen uns, wir können Dinge gut besprechen. Ihre depressiven Zustände sind deutlich weniger geworden. Am Anfang der Betreuung war eine große Lebensunlust bei ihr vorhanden. Es war schon richtig schlimm. Ihre Stimmungslage hat sich aber sehr verbessert. Uns gelingt es auch Themen wie „Was ist ihr wichtig?“ herauszuarbeiten. Ebenso langfristige Ziele. So haben wir herausgefunden, dass ihr ein Umzug an den Bodensee gut täte, wo sie aufgewachsen ist. Wir gehen dabei aber langsam und behutsam vor.